Über Arbeit, Kapitalismus und Systemkritik

In einem Artikel „Unzufriedenheit im Job“, beschrieb Tim den Kapitalismus als eine einflussreiche Quelle der Unzufriedenheit, vor allem, weil er zu einer starken Umverteilung von Unten nach Oben, sowie zu Konkurrenz, Wettbewerb und Leistungsdruck führt. Um diese Absätze entspann sich zwischen Karl und Tim eine Diskussion über Kapitalismus und Systemkritik, die wir euch nicht vorenthalten möchten! Zunächst die Stelle, in der Tim Kapitalismus beschreibt. Im Anschluss unsere Diskussion darüber. Habt ihr dazu eigene Gedanken? Dann schreibt uns!


Kapitalistisches Wirtschaften in zwei Sätzen

Die Arbeit ist Gegenstand zahlreicher philosophischer, psychologischer, soziologischer, ökonomischer und medizinischer Untersuchungen und Theorien. Arbeit wird in Philosophie, Sozialwissenschaften und Volks- und Betriebswirtschaftslehre jeweils unter besonderen Aspekten betrachtet. Das Modell, mit dem wir unser Wirtschaftssystem häufig beschreiben, ist das des Kapitalismus.

Diese Theorie besagt, dass wir unsere Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt verkaufen. An diejenigen, die das nötige Kapital, also Geld, Fabriken, Infrastruktur etc. besitzen, um damit Profit zu generieren und diesen Profit zur weiteren Profitmaximierung zu reinvestieren. Der Kapitalismus besteht darin, Profitsteigerung als Ziel in sich zu betrachten. Dieses Modell des Wirtschaftens hat sich als extrem erfolgreich erwiesen und hat uns als Gesellschaft einen so noch nie dagewesenen Grad an Innovation und Wohlstand beschert. Dieser Wohlstand ist etwas Schönes und etwas, für das wir durchaus dankbar sein können! Selbstverständlich hat der Kapitalismus aber auch seine Schattenseiten.

Soziale Marktwirtschaft als Mittelweg

Diese Schattenseiten bestehen in Ausbeutung und extremer Armut (die der Kapitalismus hierzulande allerdings outgesourct hat in die „dritte Welt“), in ökologischem Raubbau, sowie in regelmäßig wiederkehrenden Krisensituationen. Hierzulande haben wir immerhin noch einen relativ starken Sozialstaat, doch leider kann auch der nicht alle Probleme lösen. Auch die Arbeitenden in unseren reichen Dienstleistungsgesellschaften, sowie der global wachsende Mittelstand, leiden unter dem Kapitalismus, von dem sie zugleich profitieren.

Als Arbeitnehmer verkaufe ich mich auf dem Arbeitsmarkt. Ich muss mich be-werben, um erfolgreich meine Kompetenzen zu vermarkten. Auch wenn ich selbständig bin, muss ich meine Energie in die Vermarktung meiner Produkte investieren. Im Gegenzug bekomme ich Anerkennung und Lohn. Das führt zu Wettbewerb und Konkurrenzdruck, was den enormen Vorteil mit sich bringt, die Performance von Individuen und Unternehmen immer weiter zu verbessern und zu steigern. Das kann aber auch zu Unzufriedenheit im Job führen, zum Beispiel daduch, dass ich mich aufgrund des hohen Konkurrenzdrucks selbst aufopfere. Am Ende kann dann der Burn-Out stehen. Das ist eine von vielen Möglichkeiten, wie sich der Konkurrenzdruck auswirken kann.


Karl: Den Kapitalismusteil finde ich zu dominant und etwas anstrengend. Wir leben ja eben nicht mehr in der Industrialisierung als die Welt vor allem aus Fabrikherren und Arbeitern bestand. Wir leben  in einer sozialen Marktwirtschaft, viele Menschen wählen den Weg der Selbstständigkeit, durch Bildung werden viele Klassenschranken aufgeweicht…Bitte reduzier das Thema auf den einen wesentlichen Einfluss auf Unzufriedenheit, philosophische Theorie dazu sollte in einen extra Artikel.

Tim: Hey Karl, bezüglich des Kapitalismusteil befinde ich mich  in einem Zwiespalt: einerseits verstehe ich, dass das als anstrengend erlebt werden kann und die Leser und Leserinnen mit dem Text abgeholt werden sollen, andererseits hätte ich das Gefühl, mich zu verbiegen, wenn ich das rausstreichen würde. Aus meiner Sicht muss ich dir widersprechen – Nur, weil die Industrialisierung vor 200 Jahren stattfand, sind ihre Folgen ja noch nicht vorbei. Daher doch: Genau die gibt es, die Fabrikherren und die Arbeiter und Arbeiterinnen. Es gibt diejenigen, die das Kapital (Produktionsmittel, Geld) besitzen und diejenigen, die dafür arbeiten, Profit zu erwirtschaften. Daran hat sich nichts geändert. Wir nennen den Fabrikherren heute nur CEO oder Manager. Und ja, die Arbeitswelten haben sich verändert. Die Grundstruktur kapitalistischen Wirtschaftens aber bleibt. Das ist aus meiner Sicht keine philosophische Theorie, sondern ganz normale Praxis.

Kapitalismus … mhm, also ich sehe eherlich gesagt nur dieses eine von dir oben benannte Schema oben als erwähnenswert an:

Es gibt die „Herren- & Sklaven“ – Dynamik, in der die Privilegierten die weniger Privilegierten vor den Karren spannen und ggf. ausbeuten.

Dazu könnte man auf das Thema Gruppendynamik verweisen, da gehört es meiner Ansicht nach hin

Die Idee als alles dominierende Kritik über unsere ganze Wirtschaft zu stülpen erscheint mir immer heute als verblendete Vereinfachung der Realität. Es gibt staatlich gefördertes ökologisches und soziales Unternehmertum, Bafög und soziale Absicherung für alles Erdenkliche in diesem Land.

In jedem Fall finde ich es wichtig, das Thema im Kontext vieler möglicher Systeme zu betrachten und dies in einer möglichst neutralen Perspektive…

Also welche zentralen System-Features für ein Wirtschaftssystem gäbe es denn noch?

Intrapreneurship wäre ja auch Teil eines kapitalistischen Dogmas…
Kapitalismus ist nicht klar definiert,
Geht es um Ausbeutung oder um Unternehmertum? Um soziale Kälte oder den Steuersatz?

Hier geht es ja darum, Menschen, die unzufrieden sind, Perspektiven auf ihre Situation zu eröffnen.
Dabei ist es natürlich sinnvoll, sich die Auswirkungen des Systems auf unsere Arbeitskonstellation klar zu machen.

Aber es gibt ja auch noch die depressiven CEOs, die ausgebrannten Freiberufler, die faulen Bürokraten, gelangweilte Behördenmitarbeiter und die Pflegekräfte mit Sinnzweifeln…
Gibt es nicht-kapitalistische Länder, die diese Probleme nicht haben?

also zunächst: gruppendynamiken spielen zwar immer eine rolle, allerdings nicht mehr, wenn es um beistzverhältnisse in globalen ökonomien mit mehreren milliarden menschen geht. ich denke, dass das eine psychologisierung sozioökonomischer zusammenhänge wäre, und deswegen unzulässig ist, obgleich solche dynamiken innerhalb von organisationen natürlich eine dominante rolle spielen können.

als nächstes stimme ich dir darin voll und ganz zu, dass wir das ganze aus vielen perspektiven betrachten müssen. und diese dynamik des wirtschaftens ist in meinen augen ein wesentliches grundelement, eine schematisierte dynamik, die dem explosiven geschehen der letzten jahrhunderte innewohnt. es gibt aber selbstverständlich noch andere elemente. ich habe kapitalismus mit marx im text mit zwei sätzen definiert: „Diese Theorie besagt, dass wir unsere Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt an Kapitaleigner verkaufen. An diejenigen also, die das nötige Geld und die Produktionsmittel besitzen, um damit Profit zu generieren und diesen Profit zur weiteren Profitmaximierung zu reinvestieren.“ – der Clou beim Kapitalismus ist die Reinvestition und die Profitmaximierung als Ziel in sich. Adlige hätten früher mit dem Geld viel eher Statussymbole und Ländereien gekauft, Unternehmer nehmen das Geld, damit es mehr Geld erzeugt. Das ist Kapitalismus.

ok, soviel inhatlich. und na klar, ich will den menschen auch perspektiven eröffnen. und ich bin kein marxist (auch wenn ich seiner eben genannten analyse zustimme) und will auch nicht wie einer rüberkommen. die schwierigkeit besteht eben darin, dass das aufgrund der deutschen geschichte ideologische, und stark emotionalisierte themen sind, die man super schnell in das falsche ohr kriegen kann. das ist glaub ich, die konfliktlinie an der wir uns gerade befinden.

und faule bürokraten etc. gabs natürlich auch im real existierenden sozialismus, genauso wie ausbeutung in allen gesellschaften existiert hat. es ist die art und weise, wie der kapitalismus ausbeutet und die damit einhergehenden dimensionen …

Also wenn wir uns auf das Kernschema „Die Arbeitskraft an Kapitaleigner verkaufen“, dann trifft dies heutzutage aber auch nur noch auf einen Bruchteil der Bevölkerung zu, nennen wir sie mal die „Hartz 4 zwingt mich zu Lohnarbeit“ – Klasse.

Alle anderen Klassen unserer Gesellschaft haben deutlich mehr Handlungsoptionen als nur „Ich verkaufe meine Arbeitskraft an einen Kapitalisten“… die werden in dieser Debatte gerne mal unterschlagen, was für mich einem Mangel an Kreativität und Weisheit gleichkommt.

Und ich wette, selbst in einer Jäger & Sammler-Kultur wird sozialer Druck ausgeübt auf die Mitglieder der Gesellschaft, sich an der Wertschöpfung zu beteiligen. Auch das erscheint mir wie ein Gruppendynamisches Kernelement.

Heutzutage ist das Produktionsmittel ja auch nicht mehr eine superteure Maschine, sondern manchmal einfach die richtige Marketing-Kampagne zusammen mit der passenden Überzeugungsstrategie für die Mitarbeiter. Ich habe schon mit vielen Start-Ups gearbeitet und war immer wieder beeindruckt, wieviel Selbstausbeutung Menschen bereit sind zu praktizieren für bunt beworbenes Tech-Spielzeug. Nach meiner Wahrnehmung wird sie aber noch übertroffen von der Selbstausbeutung in NGOs. Auch meine Komilitonen, die Doktorarbeiten gemacht haben, haben sich jahrelang selbstausgebeutet für ein System und die Idee eines höheren sozialen Status‘.

Und daneben gibt es auch noch das unternehmerische Risiko…mit hoher Macht kommt auch große Verantwortung, auch wenn sie in jeglicher Gesellschaftsform missbraucht werden kann. Wenn das nicht utilisiert wird, scheitern Staaten wie die DDR.

Ich habe immer das Gefühl, diese „linke“ Perspektive kritisiert das Vorhandensein von Macht, was quasi eine Kritik an der menschlichen Natur ist.
Und mir scheint es dumm, sich gegen die Natur zu wenden

ich denke, alles was im privaten sektor läuft, ist erstmal daran orientiert, gewinne zu erzielen. und ich weiß jetzt nicht, wie groß der anteil der arbeitenden in diesem sektor ist, aber ich vermute mal, dass es mehr ist als nur ein bruchteil. und hier gleich schon mein vorschlag: ich würds umformulieren in „ich verkaufe meine arbeitskraft auf dem arbeitsmarkt“. und das müssen ja alle in der ein oder anderen form, weil wir auf den lohn angewiesen sind. das ist doch, wie arbeit für den großteil der menschen aussieht. auch wenn das natürlich viele formen der selbstausbeutung annehmen kannst, wie du das so treffend beschrieben hast.

„Produktionsmittel“ würde ich als wording auch rausnehmen. ich finde eine neutrale lösung würde im fokus auf konkurrenz & wettbewerb stehen, was denke ich auch ein kernelement unserer art des wirtschaftens ist, siehe neoliberalismus. habe ich auch schon versucht, den fokus dahinzulenken. was meinst du dazu, karl? 🙂

und ja, macht wird bei vielen linken pauschal kritisiert. macht liegt wahrscheinlich teils in der menschlichen natur, aber es geht darum, wie wir mit der menschlichen natur umgehen und sie gestalten. das ist dann kultur, etwas menschengemachtes, und diese ökonomisch-kulturellen machtverhältnisse sind unbedingt kritikwürdig. macht per se ist nichts schlechtes, nur wenn diese systemisch zementiert werden, verletzt das den gleichheitsgrundsatz und die chancengleichheit und ist in diesem sinne ungerecht. gut, aber wir können wirklich ewig drüber diskutieren 😀