Trauma & Bindung

Die Bindung, die wir als Kind in unseren ersten Lebensjahren zu Bezugspersonen aufbauen, beeinflusst die persönliche Entwicklung ganz wesentlich. Zum Beispiel bestimmt sie auch darüber, wie wir als Erwachsene unsere Beziehungen gestalten.
Trauma und Bindung stehen häufig in einem sehr engen Zusammenspiel. So kann durch eine unsichere Bindung zwischen Eltern und Kind ein Trauma beim Kind ausgelöst werden. Auslöser für die unsichere Bindung wiederum kann ein bereits bestehendes Trauma beim Elternteil sein. Auf der anderen Seite haben sichere Bindungen aber auch viel Potenzial für ein Kind und seine Entwicklung, weil es durch sie beispielsweise lernen kann, sich selbst zu regulieren und ein Grundvertrauen in die Welt entwickelt.

Bindung als Schlüssel zu gesunder Entwicklung

Eine Bindung besteht immer zwischen einer schwächeren und einer kompetenteren Person, der Bezugsperson. Ihr liegt also naturgemäß ein Ungleichgewicht zugrunde. Ein Beispiel ist die Bindung zwischen einem Kind und seiner Mutter. Bezugspersonen können aber nicht nur Elternteile, sondern auch Lehrer:innen, Erzieher:innen oder ältere Schüler:innen sein.
Eine für ein Kind sichere Bindungsperson reagiert idealerweise einfühlsam auf die Signale des Kindes. Außerdem ist sie fähig, sich in seine Lage hineinzuversetzen und auf seine Bedürfnisse zu reagieren. Eine sichere Bindung bietet für das Kind die Brücke zur Welt: Die Bezugsperson fasst eigene Gefühle und die des Kindes in Worte sowie das, was um das Kind geschieht und das, was es selbst tut.

Zwischen den Polen Bindung und Exploration kann sich das Kind dann auch sicher bewegen:

  1. Bindungsverhaltenssystem: Bietet Schutz und Sicherheit. Hierhin kehrt das Kind zurück, wenn es sich im anderen System nicht (mehr) aufgehoben fühlt.
  2. Explorationsverhaltenssystem: In diesem System bewegt sich das Kind, wenn es sich sicher fühlt und Neugier und Entdeckerfreude auslebt.

Wenn die Kommunikation in einer Bindung aber gestört ist, zum Beispiel weil die Mutter nicht die (emotionalen) Kapazitäten hat, sich in das Kind und seine Bedürfnisse hineinzuversetzen, entsteht eine unsichere Bindung. Dann gerät auch aus dem Gleichgewicht, wie stark sich das Kind jeweils den beiden Verhaltenssystemen zuwendet. Es verhält sich dann also entweder besonders selbstständig (vermeidende Bindung) oder ist sehr ängstlich (ambivalente Bindung).

Weitergabe von Trauma und Folgestörungen Auslöser für fehlende oder sogar gestörte Kommunikation in einer Bindung kann ein Trauma der Bezugsperson sein. Im extremsten Fall, durch das Senden widersprüchlicher Signale, entsteht dann eine dritte Form der unsicheren Bindung, die man als desorganisiert bezeichnet.

Wenn bereits traumatisierte Eltern in der Bindung zu ihrem Kind das Kind möglicherweise sogar erneut traumatisieren, geschieht eine Entwicklungstraumatisierung. Durch diese leiden Kinder dann an Traumafolgestörungen. Ohne die Werkzeuge, die eine sichere Bindung dem Kind vermittelt hätte, ist es zum Beispiel unfähig, sich selbst wieder zu beruhigen und extreme Gefühlszustände auszuhalten. Oder es kann eigene Emotionen und auch körperliche Zustände selbst nur schwer beschreiben. Genauso fehlt die Fähigkeit, Sicherheit und Gefahr richtig einzuschätzen. Nicht zuletzt ist auch ein negatives Selbstbild Teil dieser Traumafolgestörungen. Das Kind fühlt sich hilflos, wertlos und nicht selbstwirksam.

Selbstregulation als wichtiges Werkzeug

Bindungen entscheiden also unter anderem darüber, inwieweit wir fähig sind, uns selbst zu regulieren. Entwicklungstrauma, aber auch Trauma im Allgemeinen führt dazu, dass die Fähigkeit zur Selbstregulation möglicherweise sehr klein wird. Widerspiegeln kann das das Modell des Stress- Toleranz-Fensters:


Der grüne Bereich stellt die Selbstregulation dar, der rote Über- und der blaue Untererregung. Reagiert eine Bezugsperson darauf, wenn das Kind zum Beispiel übererregt ist und schreit, lernt das Kind mit der Zeit immer besser, sich selbst zu regulieren, weil es Vertrauen und ein Sicherheitsgefühl aufbauen kann. Wird das hingegen vernachlässigt, entsteht beim Kind ein extremer Wechsel zwischen Über- und Untererregung. Es kann nicht lernen, sich selbst zu regulieren. Das gleiche Problem entsteht bei traumatisierten Menschen, die durch Reize, die das Trauma triggern, sehr leicht in Über- oder Untererregung geraten.
Menschen, denen es schwerfällt, sich selbst zu regulieren, sind dadurch auf Bindungspersonen angewiesen, die ihnen dabei helfen, sich zu regulieren, also zu beruhigen.

Beispiel: ein Säugling hat Hunger und schreit

Ein Säugling ist auf die Fürsorge der Bindungsperson angewiesen, da er sich noch nicht selbst helfen kann. Hier siehst du, wie das Stress-Toleranzfenster bei einem Säugling, der Hunger bekommt, aussehen kann:

  1. Dem Säugling geht es gut, es ist zufrieden, warm und satt.
  2. Der Säugling bekommt Hunger  – der innere Stress wächst und er kann sich nicht selbst regulieren
  3. Der Säugling beginnt zu schreien – er aktiviert das Bindungssystem und verlässt den grünen Bereich, in dem er sich selbst regulieren kann; er schreit im wahrsten Sinne nach Hilfe
  4. Regulierende Option: Die Mutter kommt und kümmert sich
    → Kommt die Mutter und beruhigt den Säugling durch z.B. Füttern und liebevolle Zuwendung
  5. Der Säugling rutscht zurück in den grünen Bereich seines Stress-Toleranzfensters, es geht ihm wieder gut.4. Nicht-regulierende Option: ⚡️ Niemand kommt → Reaktion eins: Übererregung
    Wenn niemand kommt, um den Säugling zu beruhigen, rutscht er in eine traumatische Situation und fühlt Panik, Verlassenheitsangst, bis hin zu Todesangst. Diese Übererregung kann z.B. durch z.B. Schreien, Toben, Ausrasten, Weglaufen, Verkrampfen oder Erstarren ausgedrückt werden.
    5. Reaktion zwei: Unterregung. Wenn weiterhin niemand kommt, rutscht der Säugling in die Untererregung, in den sog. Erschöpfungsschlaf. Unterregung kann auch durch Abschlaffen, Wegtreten oder Abschalten ausgedrückt werden.

Wenn Kinder andäquat durch feinfühlige Bindungspersonen begleitet werden, lernen und Kompetenzen aufbauen, dann wird das persönliche Stresstoleranzfenster im Laufe der Zeit immer größer. Ihre Fähigkeit zur Selbstregulation nimmt also zu.

Zwei Brillen: Bindung und Trauma

Störungen, unter denen Menschen leiden, kann man zur Diagnostik letztlich aus beiden Blickwinkeln betrachten: Bindungsorientiert und traumazentriert. Guckt man durch die Bindungs-Brille, geht man davon aus, dass das Verhalten eines Menschen die Folge eines unsicheren Bindungsmusters ist. Dann kann man genauer darauf schauen, wie genau und warum jemand seine Beziehungen so gestaltet, wie er das tut. Guckt man hingegen durch die Trauma-Brille, nimmt man an, dass das Verhalten durch ein Trauma entstanden ist und die Symptome, die heute als störend empfunden werden, im Trauma dem Überleben der Person dienten und darum als Bewältigungsstrategie weiter bestehen. Oft stehen beide Ausgangspunkte, Trauma und Bindung, nicht nur in einem engen Zusammenhang, sondern auch in einem Zusammenspiel.