Diese tolle Erfahrung in meinem Referendariat prägte mein Selsbtbild als Lehrer für den Rest meiner jungen Lehrerlaufbahn:
Die Klasse war bekannt als Chaoten-Klasse, als ich den Mathe-Unterricht übernehmen sollte. Von Anfang an war klar: Die Schüler:innen hatten keine Lust auf Schule und schon gar nicht auf Mathe. Ich nahm starke Widerstände wahr: gegenüber Unterricht, Schule und Lehrern als Autoritäten – und damit auch gegenüber mir.
„Wo die Hormone kreisen, geht der Verstand auf Reisen“.
Diese Monsterchen waren weit mehr beschäftigt mit ihren Launen, Sitznachbarn und dem Demonstrieren einer Anti-Haltung als darauf, den Unterrichtsstoff zu verarbeiten. Gute Noten wollten aber trotzdem alle haben.
Die Motivation war klein – mein Energieverbrauch war riesig, ich habe wild herumprobiert mit Belohnungen, Strafen, Geschichten, Schmeicheleien und Androhungen. 2 Monate lang kämpftee ich mich ab an ihren Widerständen – bis ich nicht mehr konnte. Ich war innerlich kurz davor, aufzugeben.
Ich wollte bestimmt nicht Lehrer werden, um Kinder zu gängeln.
Ich ließ los – überlegte, was ich an ihrer Stelle gerne erleben würde – und suchte nach Möglichkeiten, ihre pubertäre Energie zu nutzen:
Welche Möglichkeiten gibt es, das Bedürfnis nach Selbstbestimmung und den Wunsch nach Aufmerksamkeit durch andere Mitschüler zu nutzen?
Nachdem ich transparent gemacht hatte, wie anstrengend diese Art der Unterrichtsführung für mich war und ich keine Lust mehr hätte, kündigte ich einen radikalen Kurswechsel an:
- Ich händigte ihnen die Klassenarbeit aus, die sie in einem Monat schreiben sollten. Volle Transparenz, keine albernen Spielchen mehr. Nur ein paar Zahlen würde ich austauschen.
- Ich gab ihnen die Lösungen für alle Buchaufgaben und sagte ihnen, welche ihnen helfen würden, die Klassenarbeit optimal zu bestehen.
- Eine große Motivation der Schüler in diesem Alter liegt darin, sich miteinander zu vergleichen, dies nutzte ich: ich erfand lustige Rollen für die Arbeit, die ich sonst hatte: Richter, König, Aufpasser etc.
- Die Rollen wurden verteilt und sie wählten, wer welche Rolle übernehmen sollte.
Am Anfang war es pures Chaos: ich hatte Angst, dass irgendein anderer Lehrer die Tür aufmachte und das Durcheinander in meinem Unterricht sah. Doch als sie merkten, dass ich sie nicht mehr reglementiere, verloren das Rumgealber irgendwann an Sinn und tatsächlich hatten einige dann mehr Lust, diese Chance zu nutzen, um nach eigenen Vorstellungen sich auf eine Klassenarbeit vorzubereiten. Denn Noten waren ihnen immer noch wichtig. Damit hatte ich gewonnen! 🙂
Mit der Zeit fingen sie an, das Spiel selbst weiterzuentwickeln: Sie wollten ein Motto für das Lernspiel haben: Sie wählten dafür Harry Potter. Bald wurde die Klasse unterteilt in vier Hogwarts-Häuser, mit jeweils zwei Lehrern, Hausmeistern, magischen Tieren und allen Rollen, die eine Zauber-Schule eben braucht.
Ich lenkte lediglich vom Hintergrund her, coachte die neuen Lehrer in ihrer Rolle und überließ ihnen die Kontrolle. Sie nahmen die Unterrichtsproduktion in die eigene Hand, erfanden eigene Tests, halfen sich gegenseitig und gaben sich sogar selbst Punkte für ihre Lernerfolge. Aus der Chaoten-Klasse entwickelte sich eine lerneifrige Gruppendynamik mit Schülern, die selbst die Pausen durchmachten.