Gestaltpsychologie: 3 Gesetze der Wahrnehmung

Unsere menschliche Wahrnehmung basiert auf Selektion und Vereinfachung von Sinnesreizen und auf kreativer Mustererkennung. Das menschliche Gehirn versucht permanent vorherzusagen, was im nächsten Augenblick passieren wird und welche Handlungen nötig sein werden, damit wir uns wohl und zufrieden fühlen. Gleichzeitig filtert es zu diesem Zweck die unzähligen Daten, die zu jedem Zeitpunkt auf uns einprasseln. Daher ist die menschliche Wahrnehmung zugleich eine Reduktion und Konstruktion seiner Außenwelt. Das ist die zentrale Erkenntnis der Gestaltpsychologie.

Wie praktisch: durch Reduktion und Konstruktion sparen wir uns viel Aufwand, denn eine akribische Sezierung der Realität würde viel zu lange dauern, wir würden verhungern oder gefressen werden.
Wie dumm: wir schauen oft an der Realität vorbei und treffen oft ungünstige Entscheidungen.

Gestaltpsychologie: Perspektiven und Realitäten

Ist auf dem Bild ein schwarzes Kreuz auf weißem Grund? … oder ein weißes Kreuz auf schwarzem Grund?

Figur Grund Wahrnehmung

 

Siehst du auf dem folgenden Bild 6 oder 7 Würfel?

Gestalt Gesetze Psychologie Kippbild
Locksit, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

 

Kann es einen Würfel ohne Kanten geben?

Nocube, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Gestaltgesetze

Unser Gehirn ist auf Mustererkennung getrimmt, für überlebenswichtige Funktionen:

  • Erkenne den Löwen und den Wasserbüffel in der Savanne.
  • Unterscheide die Mitglieder des eigenen Stamms von denen des feindlichen Stamms!
  • Fight, flight or freeze! 

So wurde nicht nur das Überleben des Homo Sapiens gesichert, sondern auch die technologische Entwicklung bis hin zur digitalen Welt ermöglicht – zum Guten wie zum Schlechten.

Psychologen versuchen, diese durch die Evolution entstandene Wahrnehmung zu verstehen und gießen sie in phänomenologische Theorien: Ein Modell bieten zum Beispiel die Gestaltgesetze von Max Wertheimer, sowie kognitive Verzerrungen:

  1. Scheinbare Verwandtschaft: Optische Elemente, die einander ähnlich sind oder nahe aneinander liegen oder sich ähnlich bewegen, werden als zusammengehörig wahrgenommen.
    (auch: Gesetz der Ähnlichkeit, Gesetz der Nähe)
  2. Geschlossenheit: Geschlossene Strukturen werden bevorzugt. Fehlende Informationen werden gedanklich ergänzt (Beispiel oben: der Würfel ohne Kanten)
  3. Kognitive Fixierung: Wenn wir uns einmal an eine bestimmte Sichtweise und Interpretation von Informationen gewöhnt haben, werden andere Sichtweisen und Möglichkeiten systematisch ausgeblendet (mehr dazu… Auch Law of the Instrument: „Wer nur einen Hammer hat, für den ist jedes Problem ein Nagel“. Beispiel-Sätze: „Das haben wir schon immer so gemacht“ / Inertia-Effekt)

Neben der guten Fähigkeit zur Mustererkennung lauert daneben auch die Gefahr der Vereinfachung, Verblendung und Ignoranz gegenüber der Realität.

„Wenn das, was du siehst, auch nur annähernd zudem wird, was dir am besten behagt – so misstraue deinen Augen! “

Jorge Bucay, »Komm, ich erzähl dir eine Geschichte«

Was haben die Gestaltgesetze mit Psychologie zu tun?

Der Gegenstand der Psychologie ist der Geist des Menschen. Diesen Menschen in seiner Gesamtheit kann man als Gestalt begreifen. Der Mensch ist die Gestalt innerhalb seiner Umwelt. Wahrnehmungstheoretisch sieht man zwar die Gestalt vor dem Hintergrund, in Wahrheit jedoch bedingen sich Hintergrund und Gestalt wechselseitig. Diese grundlegende Erkenntnis lässt sich auf die  Psychologie übertragen. Nicht die Unterscheidung zwischen Innen und Außen, oder zwischen Subjekt Objekt, zwischen Ich und Welt ist der kleinste gemeinsame Nenner, sondern die Erfahrung selbst, die immer eine Verbindung von Innen und Außen ist. Die Erfahrung findet also in einem Feld statt, das sich mit der Dichotomisierung von Innen und Außen nicht erfassen lässt.

Denken Sie an die Erfahrung einen Apfel zu essen. Wo ist der Geschmack des Apfels? Im Apfel oder im Bewusstsein? Weder noch und beides zugleich. Die Gestalt des Apfelessens lässt sich nur im gemeinsamen Feld von Hintergrund und Gestalt begreifen. Wir schmecken den Apfel, weil er ein Reiz auf unserer Zunge ist und wir konstruieren den Geschmack, weil es ein Bewusstsein braucht, das diesen Geschmack erlebt. Die Erfahrung ist das Ganze. Dieser Grundgedanke geht schon auf Goethe zurück:

„Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre […]“

J.W. Goethe [1]

Definition Gestalt: Eine Gestalt ist eine Menge von Informationen, die als emergentes und ganzes Phänomen vor einem Hintergrund auftreten.

Prinzipien der Gestalttherapie

Die Gestalttherapie baut auf den Gestaltgesetzen auf und wird an der Frage ausgerichtet: Wie harmonisieren wir die Gestalt der menschlichen Psyche mit seinem Hintergrund? Wie kann man den Kontakt zwischen Organismus und Umwelt so gestalten, dass er möglichst vorteilhaft funktioniert?

Fritz Perls, der Begründer der Gestalttherapie, spricht als Ziel von einem guten Kontakt und von einer „klaren, leuchtenden Figur, die vom Hintergrund mit Energie gespeist wird“ [2] Kontakt wird dabei definiert als kreative gegenseitige Anpassung von Organismus und Umwelt. [3] Es handelt sich hierbei um einen dynamischen Prozess, um die eigentliche Erfahrung jenseits intellektueller Trennungen. Dadurch hat die Gestalttherapie einen holistischen Anspruch und lehnt vereinfachende Dualismen wie Seele – Körper, Selbst – Welt, Bewusstes – Unbewusstes etc. ab.

Deformiert wird die menschliche Gestalt durch „Kontaktstörungen“ – dies umfasst alle inneren Mechanismen, die den Geist und psychischen Organismus von der Homöostase abhalten: Abwehrmechanismen, Dissoziieren, Projektionen, kognitive Verzerrungen, Süchte & Anhaftungen, Deflektionen, „Open Business“ (unvollständige Prozesse), Neurosen, Traumata, und so weiter und so fort …

Entwickle eine geschulte Intuition

Es gibt viel Gefasel auf dem Coaching-Markt über holistische, ganzheitliche, intuitive Ansätze und Coaching, Blablabla eben – das entspricht etwa den Qualitätsstandards vom Kaffeesatzlesen und Warzenbeschwörung (einzig bewährte Strategie ist natürlich: Schwarze Katze bei Mitternachtsvollmond rückwärts über die Friedhofsmauer werfen). Nichtsdestotrotz brauchen wir alle Intuition und verlassen uns regelmäßig auf sie, obwohl oder vielleicht gerade weil sie sich der logischen Analyse entzieht. Wenn wir also akzeptieren und wertschätzen, dass Intuition uns immer in irgendeiner Form begleitet, weil Menschen nun einmal keine rationalen Maschinen sind, stellt sich die Frage, wie man Intuition  schulen kann, dass man ihre Vorteile maximiert und ihre Nachteile minimiert.

Kritische Situationen mit mangelnden Informationen erfordern nun einmal schnelle Entscheidungen, da bleibt keine Zeit für langes Nachdenken. Es ist entscheidend, hier eine geschulte Intuition anzuwenden. Ohne unsere Intuition läuft man andererseits auch wieder Gefahr, falsche Entscheidungen zu treffen: Analytisches Denken dauert länger. Dadurch wird der Entscheidungszeitraum schmaler, der Entscheidungsdruck steigt, damit auch der Stress und die Gefahr einer durch die ungünstigen Umstände verzerrten Entscheidung. Dann ist es besser, eine schnelle intuitive Entscheidung zu treffen als durch herausgezögerte Entscheidungen die Umstände zu einflussreich werden zu lassen.

So schulst du deine Intuition für gute Entscheidungen in kritischen Situationen

Eine gute Intuition geht einher mit einer hohen Fähigkeit zur Selbstreflexion, um die eigenen Tendenzen zu berücksichtigen und integrieren zu können. Neurophysiologisch zeigt sich dies durch eine stärkere Aktivität und hohe Dichte grauer Substanz im rechten präfrontalen Kortex im Gehirn [4].

Gestalttherapie durch Geschichten

Der Autor und Gestalttherapeut Jorge Bucay verpackt therapeutische Botschaften in Geschichten [5]. Dies ist eng mit den Prinzipien der Gestalttherapie verbunden sind, da sie auf mehreren Schlüsselaspekten dieser therapeutischen Richtung basieren:

  1. Ganzheitliche Wahrnehmung: Die Gestalttherapie betont die ganzheitliche Erfahrung. Komplexe psychologische und emotionale Themen werden als Geschichten verpackt und mit einem roten Faden verbunden, sodass Lebenserfahrungen als Ganzes gesehen werden, nicht nur als Summe isolierter Ereignisse.
  2. Hier und Jetzt: Gestalttherapie hilft den Patieten dabei, sich ihrer gegenwärtigen Erfahrungen bewusst zu werden. Bucays Geschichten fördern dieses Bewusstsein, indem sie Leser dazu anregen, ihre aktuellen Gefühle und Gedanken zu reflektieren und zu verstehen, wie diese ihre Wahrnehmung der Welt beeinflussen.
  3. Selbstreflexion und Einsicht: Ein zentraler Aspekt der Gestalttherapie ist die Förderung der Selbstreflexion und des Gewinns von Einsichten.
  4. Unfinished Business und Katharsis: Gestalttherapie adressiert oft unvollendete emotionale Geschäfte („unfinished business“), die eine Person belasten können. Durch die emotionalen Reaktionen, die Bucays Geschichten hervorrufen, können Leser ungelöste Gefühle bearbeiten und eine Form der Katharsis erleben.
  5. Kreativität und Experimentieren: Die Gestalttherapie ermutigt Menschen, kreativ zu sein und mit neuen Verhaltensweisen zu experimentieren. Bucays Geschichten bieten vielfältige Perspektiven und Szenarien, die Leser dazu inspirieren können, über alternative Herangehensweisen an ihre eigenen Lebensherausforderungen nachzudenken.

Weiterführende Quellen zur Gestaltpsychologie

[1] Zit. nach. Gestaltpsychologie kompakt, Grundlinien einer Psychologie für die Praxis. H. Fitzek. 2014, S. VIII.

[2] Gestalttherapie, Grundlagen. F. Perls, R.F. Hefferline, P. Goodman, 2004, S. 39.

[3] Gestalttherapie, Grundlagen. F. Perls, R.F. Hefferline, P. Goodman, 2004, S. 12.

[4] Relating Introspective Accuracy to Individual Differences in Brain Structure, by Stephen M. Fleming, Rimona S. Weil, Zoltan Nagy, Raymond J. Dolan, Geraint Rees. Science, 17. Sep. 2010: 1541-1543

[5] Jorge Bucay, „Komm, ich erzähl dir eine Geschichte“


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