Kurzgesagt: Utilisation bedeutet, sämtliche Ressourcen eines Menschen zu nutzen. Damit fällt unter Utilisation (von lat. utilis = brauchbar; als Verb utilisieren) sogar der Prozess, Neurosen und negative Glaubenssätze in das Coaching oder die Therapie mit einzubeziehen, statt sie zu bekämpfen. Durch das Mindset der Utilisation kann ich im Extremfall die Blockaden selbst benutzen, um sie aufzulösen.
Utilisation im Coaching ist vergleichbar mit dem Kampfsport Aikido: anstatt einem Angriff eine Gegenkraft aufzubringen, ist es viel eleganter die Energie des Gegners zu nutzen.
Auch wenn unsere Klienten uns nicht angreifen – sie testen uns, bauen Widerstände auf, entfalten Neurosen und agieren ihre inneren Spannungen aus. Die Energie, die sie damit aufbringen, kann utilisiert werden – für den Entwicklungsprozess genutzt.
Anstatt die Zeit mit einer Diskussion zu verbringen und ihrer Gegenposition mehr Raum für Zweifel an meinem Prozess zu geben, habe ich ihren Zweifel utilisiert, ihr eine WM-Frage dazu gestellt,
„Welche Möglichkeiten gibt es denn für dich, Verständnis über die Gruppenspannungen zu gewinnen?“ – Ihre Antworten habe ich parallel als erste Ideen des Brainstormings mitgeschrieben und ihr damit gezeigt, wie gut die Methode passen kann. Der Rest der Gruppe ist dann auf diese Frage mit eingestiegen, hat es auf andere Fragen übertragen und somit ging der Prozess flüssig weiter. Die Teamleiterin wurde von der Widersacherin zur Helferin, die Energie ihrer Autoritäts-Konkurrenz konnte utilisiert werden.
Utilisation ist kein rationaler Vorgang, sondern wir arbeiten kreativ und intuitiv mit dem, was sich in der Beratung darbietet – Utilisation arbeitet mit den Ressourcen des ganzen Systems. Dies erfordert besondere Sensibilität für die versteckten Möglichkeiten in einer Situation. Ein Meister im Aufspüren solcher Möglichkeiten war Milton H. Erickson, aus dessen Arbeit das Konzept der Utilisation stammt.
Wer war Milton H. Erickson?
Milton H. Erickson ist einer der wichtigsten Begründer der Hypnotherapie und war auf zahlreiche Strömungen der Psychologie und des Coachings sehr einflussreich. So entwickelte sich aus Ericksons Ansätzen zum Beispiel das Neurolinguistische Programmieren (NLP) und wichtige Grundsätze für (systemisches) Coaching. Eines dieser wichtigen Grundsätze ist die Utilisation bzw. das Utilisationsprinzip.
Erickson wurde Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA geboren und hatte mit einigen schwierigen Lebensumständen zu kämpfen. So galt er in seiner Kindheit beispielsweise als Legastheniker und musste deswegen immer mit einem Wörterbuch lesen. Schwierige Buchstaben visualisierte Erickson vor dem geistigen Auge und erlernte sie auf diese Weise – er lernte, die Vorstellungskraft als Ressource zu nutzen.
Mit 17 Jahren erlitt Milton Erickson einen schweren Fall von Kinderlähmung (Polio) und war daraufhin an den Stuhl gefesselt und konnte sich nicht bewegen. In dieser Zeit, so Erickson, beobachtete er sehr genau das Verhalten der Menschen in seiner Umgebung und entdeckte, wie komplex Kommunikation ist: Worte, Mimik und Gestik können widersprüchlich, doppeldeutig sein, Doppelbotschaften (double takes) oder sogar Dreifachbotschaften (triple takes) senden. Dabei beobachtete Erickson, wieviele subtile Faktoren Kommunikation beeinflussen, insbesondere Tonfälle, subtile Bewegungen, Gesten. Dies nutzen z.B. auch Mentalisten für ihre Tricks. Und Erickson lernte, die subtilen Botschaften zu utilisieren, wenn er später Menschen behandelte und sie besser durchschaute als die Menschen sich selbst.
Erickson half sich selbst durch Suggestionen
Erickson lernte, seine eigenen subtilen Körpersignale besser zu verstehen und zu beeinflussen durch Suggestionen. Durch aktives Imaginieren gewann Erickson allmählich Kontrolle über seine Muskeln zurück, sodass er nach einem Jahr wieder an Krücken laufen konnte. Dann entdeckte er die Hypnose und studierte sie gründlich. Er erwarb einen Abschluss in Psychologie und Medizin und wurde Facharzt für Psychiatrie. Später begründete Erikson eine neue Form der Hypnotherapie. Er nutzte das Unbewusste, das wie ein Schatz Lösungen für die meisten psychologischen Probleme enthält – indem er einen Weg fand, die unbewussten Ressourcen zu utilisieren. Durch Hypnose und Ressourcen-orientiertes Coaching kann man diese Quellen anzapfen. Dafür ist es nicht einmal nötig, die Ursachen, wie in der Psychoanalyse, auszuanalysieren, sondern man nimmt das Symptom so wie es ist und arbeitet mit ihm.
Das Utilisationsprinzip in Coaching, Therapie und Beratung
Beispiel-Geschichte für Utilisation: Der Mann, der sagte, er sei Jesus
Ein bekanntes Beispiel, das in dem hörenswerten Podcast zum Thema Erickson und Utilisation erwähnt ist, ist ein Fall einer Schizophrenie, in der sich der Betroffene für Jesus hielt. Vom Alltagsverstand würde man mit einem solchen Patienten vermutlich anfangen zu diskutieren, dass er nicht Jesus und verrückt sei. Bzw. würde ein normaler Psychiater schnell Antipsychotika verschreiben. Doch Erickson ging anders vor:
Er fragte ihn schlicht, „Ich habe gehört, sie haben die Fähigkeiten eines Zimmermanns?“ Diese Frage bejahte der Patient: er musste sich ja an die Biografie von Jesus halten. Daraufhin erklärte ihm Erickson, dass noch ein Bücherregal im Büro benötigt sei. Sicherlich musste er diese Aufgabe allein schon aus Nächstenliebe annehmen, also machte er einen Plan und besorgte alle Materialien und baute mit viel Akribie an dem Bücherregal. Diese Aufgabe nahm den Patienten so sehr ein, dass er seinen Jesus-Wahn allmählich vergaß. Das Erfolgserlebnis des gebauten Bücherregals brachte ihn in einen neuen Zustand und öffnete ihn für die weiter Therapie.
Die Geschichte von Ruth
Noch ein weiteres Beispiel: Erickson erzählt die Geschichte von Ruth, einem zwölfjährigen, sehr liebenswürdigem Mädchen in der Psychiatrie. Die alten Schwestern warnten die neuen Krankenschwestern stets vor ihr: sie reiße einem die Kleidung vom Leib oder bricht einen Arm oder einen Fuß. Und tatsächlich, nahm Ruth neue Schwestern schnell für sich ein und bat sie dann z.B. ein Eis zu holen. Sie nahm das Eis und bedankte sich, und trat dann aber zu, sprang auf den Fuß oder zerrte an der Kleidung. Für Ruth war das Normalität.
Erickson besprach sich mit dem Leiter der Anstalt, denn er hatte eine Idee, und holte sich grünes Licht für sein Vorhaben. Eines Tages kam ein Anruf: Ruth ist schon wieder am Durchdrehen. Erickson ging sofort in die Abteilung. Ruth hatte den Putz aus den Wänden gerissen und ihren Schlafanzug zerfetzt.
Erickson ging hin und half ihr, das Bett zu zerstören. Er schlug mit ihr Scheiben ein, sie verbogen Rohre und brachen alle möglichen Dinge ab. Alsbald sah Erickson sich im Raum um und sagte: „Ruth, hier im Raum gibt es nichts mehr, lass uns in einen anderen Raum gehen.“ Ruth sagte: „Sind sie sicher, dass Sie das tun dürfen, Dr. Erickson?“ „Klar, ist doch ein Riesen-Spaß, oder nicht?“
Als sie dann den Korridor entlang liefen, begegneten sie einer Schwester. Erickson riss ihr die Uniform vom Leibe, sodass sie nur noch in BH und Unterhose da stand. Und Ruth sagte: „Dr. Erickson, sowas macht man nicht.“ Sie rannte in den Raum und holte Bettlaken und gab sie der Krankenschwester. Seitdem war Ruth ein liebes Mädchen. Die Krankenschwester war natürlich eingeweiht…
Die Utilisation: Erickson nutzte die Solidarität unter Frauen und ihren bisher verborgenen Hilfs-Instinkt. Das Beispiel von Ruth zeigt nicht nur Utilisation, sondern auch eine paradoxe Intervention. Statt ihr Verhalten zu verurteilen, geht er in Allianz mit ihr, verdeutlicht ihr Verhalten und übertreibt es noch. Weil Erickson ihr Verhalten spiegelt, sieht sie die Wirkung ihres Verhaltens klarer, muss selbst nicht mehr die Aggression aufrecht erhalten und entwickelt Mitgefühl für die Krankenschwester. Diese Lösung ist natürlich radikal, aber wenn sie klappt, effektiv. Es konnte in einer Meta-Analyse gezeigt werden, dass bei schweren Fällen die paradoxe Intervention sogar effektiver sein kann als konventionelle Verfahren [1].
Es gibt eine schockierende Geschichte, in der Ajahn Chah den Selbsterhaltungstrieb einer „vom Teufel besessenen“ Frau nutzt: er sagt, der einzige Weg, ihr zu helfen, ist es, den Dämon herauszubrennen. Während mehrere Männer ein Loch für sie schaufeln, Feuer lodern lassen und heißes Wasser zum Verbrühen, beruhigt sich die Frau und findet zur Realität zurück.
Utilisation & Kreativität
Die Therapiegeschichten von Erickson sind voll mit solchen Geschichten. Stets versuchte er, auf jeden Patienten individuell einzugehen und ihn mit all seinen „Macken“ und Symptomen zu nehmen, d.h. so wie er ist. Dann entwickelte er intuitiv kreative Zugänge zu seinen Patienten, wie in dem Fall mit Ruth.
Im modernen Coaching hat sich dieser Ansatz, nämlich den Patienten als Ganzes anzunehmen, als wertvoll erwiesen: Auch der Gedanke, dass jedes Problem die Lösung schon in sich enthält, hat sich zu einer populären Idee in der systemischen Beratung entwickelt. Durch das Grundprinzip der Utilisation arbeitet man nicht gegen den Patienten, sondern mit ihm. Das stiftet natürlich auch Konfusion wie in dem Falle von Ruth. Die Konfusion, die durch die Utilisation ausgelöst wird, ist extrem wertvoll, weil sie die bewussten Widerstände des Patienten umgeht und weil sie die Basis für einen wirklichen Neuanfang schafft.
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Reframing: Hinter jeder Schwäche steckt eine Ressource
Habe den Mut, dich deiner eigenen Schwächen zu bedienen.
Die Geschichten von Erickson inspirieren dazu, auch die eigenen Schwächen und Macken mit mehr Humor zu nehmen. Ein guter Coach kann sich selbst mitsamt seinen Mängeln akzeptieren und ist kein „Guru der Perfektion“ sondern eher eine Art „Chaosmagier“. Die eigenen Schwächen weisen immer auf ein Potenzial zu Wachstum und Erneuerung hin. Deswegen ist es von so großer Bedeutung, sich in Akzeptanz und Mitgefühl zu üben und der Wirklichkeit keine kraftraubenden Widerstände entgegenzusetzen. Probleme und psychische Symptome haben stets auch einen verborgenen Sinn, den es zu erkennen gilt. Aber dafür müssen sie erst einmal in ihrer vollen Tragweite und Dramatik (aber auch in ihrer Komik) angenommen werden. Dann fühlen sich Menschen gesehen und gehört und die therapeutische Allianz kann sich entfalten.
Ressourcenorientierung
Erickson nahm Schwächen und Krisen als Möglichkeit zu innerem Wachstum. Dafür orientierte er sich an den Ressourcen des Klienten und forderte sie zum Beispiel im hypnotherapeutischen Kontext dazu auf, sich an Lernerfolge aus der Kindheit zu erinnern. Milton wusste aufgrund seiner Kinderlähmung, wie viel Zeit, Mühe, Geduld und Frustrationstoleranz es braucht, um so etwas „selbstverständliches“ wie Laufen zu erlernen. Da die allermeisten von uns laufen können, haben wir unbewusste Erinnerungen an die helle Freude daran, etwas so Kompliziertes zu erlernen. Sich diesen Erfolgszustand wieder vor das geistige Auge zu holen, aktiviert früheste Ressourcen und Erfolgserlebnisse, die auch für gegenwärtige Problemsituationen ermutigend wirken können.
Aufgrund seiner langjährigen psychiatrischen Erfahrung, und seiner Erfahrung mit sich selbst, war Erickson sich gewiss, dass das Unbewusste nicht bloß ein Hort pathologischer Ursachenkomplexe ist, sondern vor allem ein Pool, in dem sich unzählige kreative Lösungen befinden. Psychogene Symptome waren für Erickson nie etwas zu Bekämpfendes, sondern der Versuch des Unbewussten zunächst einen funktionalen Zustand des Fließgleichgewichts aufrecht zu erhalten (Homöostase) und darüber hinaus immer schon eine versteckte Lösung bereitzustellen.
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Meditation und Achtsamkeit: Selbstregulation als Meta-Ressource aktivieren
Oft ziehen wir mit uns selber in das Gericht, wenn wir Schwächen entdecken. Wir denken darüber nach und verurteilen uns, was das Problem allerdings eher verstärkt, als es zu lösen. Ein wirksames Mittel ist, in die innere Stille zu gehen und sich selbst und seine Identifizierungen mit sanfter Gelassenheit zu beobachten. Das hat erstens zur Folge, dass die Identifikation mit dem Problem sich allmählich lockert und man sich davon befreit (Stichwort: Nicht-Anhaften), und zweitens mehr Selbstfürsorge und -akzeptanz.
Dem meditativen Loslassen kann eine Ausrichtung auf und eine Reflektion über die positiven Ziele im Leben folgen, sodass wir uns in einen inneren Zustand der Kraft, Kreativität und Liebe begeben. So üben wir mentale Zustände, die uns dabei helfen, das Problem zu akzeptieren und darüber hinaus zu überwinden.
Reframing-Übung zur Utilisation
Vorgehen: Finde die Ressourcen hinter einer Schwäche und kanalisiere sie in eine sinnvolle Richtung.
Voraussetzung: Bleibe in einem möglichst konzentrierten & entspannten Mindset, sodass du genug Kapazität für kreative Impulse hast.
- Erkenne das Problem.
Bsp: Schüler stört den Physik-Unterricht, indem er zappelt und durch die Gegend läuft. - Suche nach einem dahinterliegendem Impuls.
Bsp: Schüler ist angespannt und weiß nicht wohin mit der Spannung und hat vielleicht einfach einen großen Bewegungsdrang. - Ressource identifzieren: Welche Form von Energie stellt der Impuls zur Verfügung?
Bsp: Kinetische Energie – Schüler kann verschiedene Orte aufsuchen. - Reframing: Wähle einen positiven Rahmen (Framing), in dem die Energie sinnvoll sein kann. In welchem Kontext könnte das Problem oder diese Energien nützlich sein?
Bsp: Schüler kann Bewegungen ausführen, die dann physikalisch untersucht werden können. Oder er kann die Umgebung analysieren. - Kanalisiere die Ressource in eine für den gewünschten Prozess sinnvolle Richtung.
Bsp: Schüler soll 4 x um die Schule laufen. Schüler B soll den Weg messen und die Zeit stoppen. Daraus kann eine Bewegungskurve erstellt werden, Geschwindigkeiten berechnet und kinetische Energie berechnet werden.
Anwendungsfelder von Utilisation
Gesellschaftliche Utilisation: Für sehr komplexe Prozesse (z.B. Politik) kann beobachtet werden, wie aus der Zeit aus einer gesellschaftlichen Spannung eine Innovation wird: Angela Merkel nutzte z.B: Fukushima für den Atom-Ausstieg und die zweite Corona-Welle für ein Digitalisierungspaket.
Coaching & Therapie:
- Verhaltenstherapie baut stets auf den nutzbaren Ressourcen der Klienten auf (Neuroplastizität, Übertragbarkeit von Kompetenzen) und schafft Selbstwirksamkeit als Meta-Ressource.
- Das Traumatherapie-Verfahren Somatic Experiencing nutzt die in negativen Emotionen steckende Energie. Die meisten Coaching-Prozesse beruhen auf der Coach-Klient-Beziehung als Ressource, die dem Klienten Sicherheit und Aufmerksamkeit gibt und Raum schafft, mit den vorhandenen Ressourcen neue Lösungswege zu aktivieren.
>> Mehr zur Trauma-Integration - Gestalt-Therapie sucht nach „Lücken zur Ganzheit“ und aktiviert Ressourcen, um diese Lücken zu füllen.
- Achtsamkeit aktiviert Meta-Ressourcen des Nervensystems: Selbstregulation, Körperwahrnehmung
- Systemische Therapie schaut in die verschiedenen Perspektiven des menschlichen Systems – und deckt einerseits verborgene Zusammenhänge auf (Erkenntnis als Ressource, Kontrolle), andererseits werden durch die neuen Perspektiven auch neue Möglichkeitsräume geöffnet und damit Kreativität als Ressource ermöglicht.
- Kunst-, Tanz- und Kreativtherapie: kreativer Ausruck ist immer eine Nutzung von vorhandenen Ressourcen hin zu einer Neukombination. Dadurch können sich Spannungen lösen, neue Möglichkeiten vorbei an den Widerständen entdeckt werden und Selbstwirksamkeit entstehen.
Quellen
[1] V. Shoham-Salomon, R. Rosenthal: Paradoxical interventions: a meta-analysis. In: Journal of Consulting and Clinical Psychology, 55(1), 1987, S. 22.