Ich betrachte hier didaktische Möglichkeiten, ein Thema als Lernprozess zu strukturieren. Daneben gibt es noch weitere Unterscheidungen von Lernprozessen (zum Beispiel durch unbewusstes Lernen, informelles Lernen etc.), aber ich betrachte hier nur die Arten von Lernprozess, die gezielt zur Wissens- und Kompetenzvermittlung eingesetzt werden.
Definition Lernprozess
Der Lernprozess ist eine Abfolge von Lernaktivitäten, durch den eine Person (»Schüler«) neues Wissen, Fähigkeiten oder Verhaltensweisen erwirbt. Der Lernprozess wird durch Einflussfaktoren wie Motivation, Umgebung, emotionale Zustände, didaktische Prozesstruktur und vorhandenes Vorwissen beeinflusst. Es ist ein dynamischer Prozess, der auf einer Kombination aus Input, Verarbeitung, Interaktion und Output basiert. Der Lernprozess kann durch eine Vielzahl von Methoden und Ansätzen unterstützt werden, wie z.B. direkte Instruktion, selbstgesteuertes Lernen oder Feedback.
In diesem Artikel unterscheide ich Lernprozesse nach Strategien und Perspektiven:
- Didaktische Ansätze: Wie wird das Wissen hergeleitet und erarbeitet?
- Agency & Ownership: Wer ist der Auftraggeber des Lernprozesses und wer hat den Hut dafür auf?
- Form und Struktur: Wie wird der Lernprozesse strukturiert und phasiert?
- Indirekte Lernprozessen: Lernen als Begleitphänomen von Wachstumsprozessen, vor allem in der persönlichen & organisationalen Entwicklungs- & Transformation
A) Didaktische Ansätze von Lernprozessen
- Deduktiver Lernprozess: es wird Wissen von einem bestehenden Modell hergeleitet. Damit kann ein zentrales Modell gefestigt werden. Nachteil: Das Modell selbst wird evtl. nicht logisch begründet. Vorteil: Man spart sich den Aufwand des Modell-Herleitens wie beim induktiven Lernen.
- Induktiver Lernprozess: das Lernen beginnt ohne Theorie, sondern mit konkreten Beobachtungen und Problemstellungen – aus der Beobachtung wird Hypothese formuliert und daraus ein Modell mit höheren Gesetzmäßigkeiten abgeleitet. Wird beispielsweise in der mathematischen Physik an Universitäten gerne angewandt. Damit ermöglicht man den Studenten einen logischen Wissensaufbau, ist aber sehr anspruchsvoll.
- Konstruktivistischer Lernprozess: am Anfang steht das Vorwissen der Schüler und aus dem Alltag bekannte Phänomene und Probleme. Dieses Wissen wird vernetzt mit neuem Wissen, mit Modellen und Experimenten – die Schüler können dadurch mit der Zeit ihr reifenden Wissen konstruieren. Eine Spezialform davon ist das
- Experienced-based Learning (dt. erfahrungsbasiertes Lernen): Erfahrungen, Konfrontation mit Problemen und Immersion mit dem Themengebiet werden als Strategie genutzt, um vernetzt Wissen und Kompetenzen aufzubauen. Der Lernprozess wird so designt und inszeniert, dass möglichst einprägsame Lern-Erlebnisse im Zentrum stehen. Je mehr Vernetzung, desto besser, also auch mit Experten und Praxis-Kontexten, anderen Schülern oder gesellschaftlichen Bezügen. Spezialfomen von erfahrungsbasiertem Lernen sind wiederum:
- Action-Learning / Lernen durch Engagment
- Peer-to-Peer-Lernen, damit auch Lernen durch Lehren
Meistens ist das erfahrungsbasierte Lernen induktiv, da aus einer empirischen Erfahrung eine Gesetzmäßigkeit hergeleitet wird. Jedoch ist nicht jeder logische Schluss notwendig und es braucht keine Beweise für die Akzeptanz einer Theorie oder Methode – es genügt, wenn sie mit der Erfahrung übereinstimmt.
Grundstruktur: Didaktischer 3-Schritt
Der didaktische 3-Schritt besteht aus:
- Einleitung,
- Erarbeitung,
- Sicherung.
…und ist auf alle obigen Arten von Lernprozessen anwendbar: die Erarbeitung kann sowohl induktiv erfolgen, als auch deduktiv als auch konstruktivistisch.
B Wer ist der Auftraggeber des Lernprozesses?
- Eine höhere Instanz (Gesellschaft, Schulleitung, Unternehmensvorstand) gibt ein Lernziel in Form von Kompetenzen und Wissen vor. Beispielsweise:
- alle Abiturienten müssen Differential- und Integralrechnung lernen, um ihr Abitur zu bekommen.
- alle Mitarbeiter eines Unternehmens müssen an der jährlichen Arbeitssicherheitsbelehrung teilnehmen
- Die Schüler als Zielgruppe, deren Potential entfaltet werden soll, bilden mit ihren Interessen und Bedürfnissen den Ausganspunkt für die Gestaltungs des Lernprozesses. Beispiele:
- eine Gruppe von Schülern sucht sich seine eigenen Experten und Lehrer für die Erarbeitung eines Faches.
- Ein Marketing- und PR-Team einer Behörde möchte kreativer werden und sucht dafür einen Dozenten für Kreativitätstechniken.
- Der Lehrer gibt den Prozess vor, basierend auf seinen Kompetenzen dun Präferenzen, durch direkte Anweisungen oder Schaffung der Rahmenbedingungen. Eine spezifische Form ist Cognitive Apprenticeship. Beispiel:
- Eine Lehrerin begeistert sich für Roboter und künstliche Intelligenz und bietet eine freiwillige AG für Schüler eines Gymnasiums an, in der sie ihre Begeisterung weitergibt, ohne dass ein Ziel erreicht werden muss.
- Ein Nawi-Lehrer hat gute Kontakte in die Industrie und organisiert eine Reihe von Kurzzeit-Praktika in Betrieben, um Schülern Einblicke in die Anwendungen physikalischer Chemie zu ermöglichen.
- Lebenswelt: Es gibt ein aktuell bedeutsames Thema, welches erschlossen werden soll. Beispiel:
- Eine Hochschule veranstaltet eine fakultätsübergreifende Projektwoche an zum Thema Klimawandel, in der alle Hochschulangehörigen Seminare anbieten und besuchen können.
- Eine Schule organisiert einen Kongress zur Berufsorientierung und Visionsfindung für Schülerinnen und Schüler der Oberstufe, um ihnen zu helfen, sich auf den Übergang nach dem Abitur vorzubereiten.
Jeder unterschiedliche Akteur in einem Bildungssystem hat auch unterschiedliche Intentionen.
Typische Intentionen sind zum Beispiel:
- Höhere Instanz (Gesellschaft, Chef): politischen Auftrag verwirklichen, Produktivität steigern, sich selbst mit Lernleistung rühmen, gesellschaftliche Probleme lösen
- Schüler / Nutzer des Lernprozesses: Vorgesetzte (Eltern) zufriedenstellen, „es hinter sich bringen“, erfolgreiche Leistung zeigen, gelobt werden, echte Neugier, Spaß haben, neue Fähigkeiten lernen, Zeit mit anderen Menschen verbringen
- Lehrer / Dozenten: Geld verdienen, Status, Anerkennung, „es hinter sich bringen“, Pflicht erfüllen, Vorgaben von oben abarbeiten, Lernende zufriedenstellen, geliebt werden, eigene Begeisterung weitergeben, eigener Neugier nachgehen, gesellschaftlichen Sinn verwirklichen
- Lebenswelt: Lösung von Problemen, Aufmerksamkeit, Innovation, Themen verknüpfen
Kohärente Lernprozesse
Im besten Fall kommen alle Stakeholder überein und es ergibt sich ein stimmiger Lernprozess für alle beteiligten. In der Schule dominiert leider oft das von oben gegebene Lernziel durch den Rahmenlehrplan oder die Abschlussprüfungen, ebenso in Hochschulen (wo es Wahlmöglichkeiten gibt, die meist aus der Dozentenperspektive entwickelt werden).
In Weiterbildungs-Seminaren, die von Unternehmen und Organisationen gebucht oder besucht werden, gibt es nach meiner Erfahrung am meisten Berücksichtigung aller Auftrags-Bedarfe.
Beispiel: Ein Unternehmen bucht für das oberste Management-Team eine Weiterbildung zum Thema „Die 7 Wege der Effektivität“ nach Stephen Covey und möchte damit:
- von oben die Effektivität des Unternehmens fördern,
- den Mitarbeitern helfen, erfolgreicher zu sein und ihre Herausforderungen zu lösen,
- einen authentischen Trainer haben, der seine Begeisterung für das Thema weitergibt,
- ein berühmtes Buch als Vorbild nehmen, welches schon vorhergehende Generationen von Führungskräften geprägt hat.
C Strukturformen von Lernprozessen
Unabhängig von den obigen didaktischen Prinzipien ergeben sich verschiedene Strategien, wie die Lerninhalte strukturiert werden in der Planung der Lerneinheiten.
- linear: Thema A –> B –> C werden nacheinander abgearbeitet
- iterativ / zirkular, mit wiederkehrenden Phasen der Anwendung, Überprüfung
- spannungs-basiert
Design Prinzipien für die Ausgestaltung des Lernprozesses
- Lernprozess-Kosmetik: Was aufgemacht wird, sollte auch wieder zugemacht werden in Form von Sicherungen
- Klarheit für den Lehrer, Klarheit für die Schüler
- Pragmatismus: Was funktioniert, ist gut (falls die Schüler sich zB doch nach Frontalunterricht sehnen)
- Viel Aktivierung (von Reizen und Motivationen und Vorwissen) hilft dem Lernen viel
D Indirekte Lernprozesse: Entwicklungs- und Transformationsprozesse
Menschen haben schon auch gelernt, bevor es Schulen, Hochschulen und IHK-Berufsabschlüsse gab. Inspiration zum Lernen kommt aus unterschiedlichsten Richtungen: Familie, Freunde, Bücher, Filme. Nicht selten übertreffen Autodidakten die Kompetenz traditioneller Ausbildungen. Als ich 5 Monate meines Studiums in Spanien verbrachte, habe ich viel mehr Sprachkompetenz erworben als in 4 Jahren Schulunterricht.
So ist es auch mit Weiterbildungen in Unternehmen und Organisationen: der beste Rahmen für Weiterbildung entsteht dann, wenn die Organisation in dynamischen Entwicklungs- und Transformationsprozessen steckt. Denn dadurch viel Spannung und Motivation für individuelle und gemeinsame Weiterentwicklung, um sich für die Zukunft fit zu machen.
Und in jedem Veränderungsprozess entstehen neue Strukturen und Verhaltensprozesse – welche natürlicher Weise mit neuen Kompetenzen einhergehen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass Entwicklungs- und Transformationsprozesse gut dadurch voran gebracht werden, indem die Schlüsselkompetenzen in Training erfahren und eingeübt werden: die Kompetenzen, die die bisherigen Probleme und die Herausforderungen der Zukunft lösen …mehr zu Future Skills.
Glossar: Durchsehen im Begriffsdschungel der Lernmodelle
Learning Experience Design (LXD) bezieht sich auf den Prozess des Entwerfens und Durchführens von Lernumgebungen, die möglichst angenehm als auch effektiv sind. Es legt einen starken Fokus auf die Verwendung von Technologie und interaktiven Elementen, um Lernende aktiv und direkt in den Lernprozess einzubeziehen.
Didaktik ist der Bereich der Bildungswissenschaft, der sich mit der systematischen Planung, Organisation und Umsetzung von Lernprozessen und Lerninhalten befasst.
Erfahrungsbasiertes Lernen bezieht sich auf den Prozess des Lernens durch direkte Erfahrung und Interaktion mit der Welt. Es zielt darauf ab, Lernende durch praktische Anwendungen zu befähigen, Wissen und Fähigkeiten zu erwerben. Dies entspricht der Idee des Lern-Konstruktivismus. Auf englisch auch: Experiential Learning als auch Experience-based Learning, siehe [2]
Konstruktivismus ist eine Lerntheorie, die besagt, dass Lernende ihr Wissen auf Grundlage ihrer Erfahrungen und Vorkenntnisse konstruieren. Konstruktivismus betont die Bedeutung von aktivem Lernen und die Rolle des Lehrers als Führer und Facilitator im Lernprozess.
Instructional Design bezieht sich auf den Prozess des Gestaltens von Lehr- und Lernmaterialien. Es beinhaltet die Anwendung von Didaktik, Lernpsychologie und Technologie, um effektive Lernprozesse und Lernumgebungen zu schaffen. In der Schule hieße dies Unterrichtsplanung.
Gamification bezieht sich auf die Anwendung von Spielelementen in nicht-spielerischen Kontexten, um Motivation und Engagement zu steigern. Durch Gamification kann eine höhere Intensität der Lernerfahrungen ermöglicht werden.
Methoden zur Entwicklung von Lernprozessen & mehr
- [LXD] Learning Experience Design: Lernen als Kunstwerk
- Lernerfolg durch Gamification: 3 Modelle
- [Anleitung] Online-Kurse erstellen in 5 Stufen mit Templates
- [Guide] Workshop Konzept erstellen: 5 Schritte für Coaches, Trainer & Berater
- DIE 5 Moderationstechniken + 10 hippe Schrippen
- Didaktik: Old School Learning Design
- E-Learning
- Instructional Design
- [Theorie] Lernen durch Konstruktivismus