Was hat Entropie mit Psychologie zu tun? Entropie ist eine physikalische Größe aus der Thermodynamik und gibt eine Antwort auf die Frage:
Wie stark durcheinander ist das System?
Dies ist vor allem für chemische Prozesse oder die Dynamik des Universums interessant – doch wir können auch in der Psychologie Entropie nutzen, um die Beschaffenheit und Dynamik der Psyche zu beschreiben. Denn das menschliche Gehirn und der menschliche Geist sind komplexe Systeme, die daher auch systemische Modelle zur erfolgreichen Beschreibung brauchen. Ein besonders schönes Beispiel ist das Thema Kreativität…
Was ist Kreativität? Eine kurze und eine lange Antwort.
Ich wurde in Kreativitätstrainings oft gefragt, was denn Kreativität eigentlich ist und bin selbst immer wieder in Schwierigkeiten gekommen, Kreativität gut zu definieren. Hier stelle ich ein paar psychologische und physikalische Modelle zusammen, die eine tiefgreifende Antwort darauf bieten.
Als kurze Antwort in Alltagssprache: Kreativität ist die Fähigkeit, neuartige Gedanken, Produkte und Ideen hervorzubringen. Die Ergebnisse des kreativen Prozesses heißen Innovationen und haben dabei eine transformative Wirkung auf den Schöpfer selbst, seine Mitmenschen oder seine Umgebung.
Beispiel für Transformation durch Kreativität
Nancy Johnson, die Erfinderin der Eismaschine: durch diese kreative Schöpfung wurde sie berühmt, ihre Familie wohlhabend, ihre Stromkosten schossen in die Höhe und ihre Mitmenschen hatten nun ständig leckeres Eis und waren ihr sehr dankbar.
Aber nun buddeln wir noch etwas tiefer in der wissenschaftlichen Begriffskiste. Dann bekommen wir eine lange, aber mächtige Antwort auf die Frage nach der Kreativität.
Entropie, Energie & lebende Systeme
Salopp: Entropie ist ein Maß für die Unordnung eines Systems. Diese physikalische Größe stammt aus der Thermodynamik und ist genau genommen etwas komplizierter: exakter kann die Entropie eines Systems darüber definiert werden, wie viele unterschiedliche Kombinationsmöglichkeiten es gibt, den Zustand des Systems aus dessen Mikro-Elementen anzuordnen.
Am Beispiel eines Kinderzimmers: Im außergewöhnlichen Idealzustand herrscht perfekte Ordnung, geringe Entropie: jedes Spielzeug hat einen eindeutigen Platz. Es gibt dabei also nur genau 1 Möglichkeit, die Spielzeuge so anzuordnen, dass dieser Zustand eingenommen wird. Dagegen hat der unordentliche Zustand eine hohe Entropie, in dem alle Gegenstände wahllos auf dem Boden liegen. Denn es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, die Gegenstände unordentlich auf dem Boden zu verteilen.
Aus Sicht der Informationstheorie: Erhöht sich der Informationsgehalt eines Systems, nimmt die Entropie ab. Entropie ist ein Maß für das Unwissen über das System.
In der folgenden Tabelle siehst du das Konzept von Entropie erklärt an verschiedenen Systemen:
System | geringe Entropie | hohe Entropie |
Konfiguration eines beliebigen Systems | wenige Möglichkeiten, diese Konfiguration abzubilden | viele Möglichkeiten, diesen Zustand zu erreichen |
Kinderzimmer | jedes Spielzeug ist an einem eindeutigen Platz aufgeräumt | alle Spielzeuge liegen durcheinander auf dem Boden |
Informationen, die in einem System stecken | hoher Informationsgehalt pro Datenmenge | niedriger Informationsgehalt pro Datenmenge |
Literatur | Goethes Faust | zufällige Aneinanderreihung von Wörtern und Buchstaben |
Gehirn | wenige neuronale Zustände, die zur Verfügung stehen | viele neuronale Zustände, die zur Verfügung stehen |
Intelligenz im Gehirn | geringe Intelligenz kann nur wenige Zustände kombinieren | hohe Intelligenz kann viele Zustände kombinieren |
Energie ist die Fähigkeit, Arbeit zu verrichten und damit auch menschliche Bewegungen und das Neuordnen des Geistes durch Lernen und den Aufbau von neuronalen Verbindungen. Potenzielle Energie ist die Energie eines Systems aufgrund seiner inneren Konfiguration. Z.B. hat eine gespannte Feder mehr potenzielle Energie als eine entspannte Feder.
Um Ordnung in ein Kinderzimmer zu bringen, braucht es mechanische Arbeit, um Gegenstände zu bewegen. Wenn das Zimmer bisher keine Ordnungsstruktur hat, muss zunächst kreative Arbeit am System „Kinderzimmer“ erbracht werden, sodass überhaupt nachhaltige Ordnung entstehen kann. Dafür braucht es kreative Kompetenzen und Vorstellungsvermögen.
Das kreative Gehirn, welches in sich eine hohe Entropie aufweisen kann, um neuartige Zustände zu erzeugen, verringert die Entropie im äußeren System Kinderzimmer.
Wenn nun nicht Ordnung für ein Kinderzimmer kreiert wird, sondern für eine menschliche Seele, verrichtet der kreative Geist des Therapeuten psychologsiche Arbeit an der Seele des Patienten, um dessen psychologische Entropie zu reduzieren – während womöglich gleichzeitig die kreative Entropie im Gehirn des Patienten steigt, da dieser nun neue Informationen und Muster bekommen hat.
Die Entropie von Lebewesen
Lebndige Systeme interagieren ständig mit ihrer Umgebung und passen sich an sie an, um die interne Entropie zu minimieren. Sie haben damit die Möglichkeit, sich selbst zu ordnen und zu organisieren. Wir betrachten menschliche Systeme: Menschen sind komplexe, lebendige Systeme, die sich selbstorganisieren können. Menschen kommunizieren miteinander und haben verschiedene innere Zustände mit Gedanken, Gefühlen, Bedürfnissen und Träumen.
Lebende Organismen sind offene Systeme: sie nehmen Energie (und Informationen) aus ihrer Umgebung auf und nutzen diese Energie für ihre internen Bedürfnisse und ihre Selbstorganisation. Dabei minimieren sie die eigene Entropie und geben Entropie an ihre Umgebung ab. Die reduzierte, interne Entropie wird manchmal auch Negentropie genannt.
Dieser Prozess der Minimierung der internen Entropie kann verstanden werden als Optimierung der eigenen Bedürfnisse. Dadurch können Lebewesen außergewöhnliche, instabile Zustände annehmen, weit entfernt von einem Gleichgewicht, z.B. sportliche Höchstleistungen und künstlerische Performances. Dieses Video zeigt ein paar beeindruckte, ungewöhnliche Zustände von menschlichen Systemen:
Aufgrund unseres differenzierten, komplexen Nervensystems spielt auch in der Psychologie Entropie eine Rolle: die Inhalte unseres Geistes (Gedanken, Bilder, Erinnerungen, Fakten …) sind Informationen, die mehr oder weniger sinnvoll strukturiert in unserem Gehirn herumliegen. Achtung: Mit Zunahme des Intellekts nimmt zunächst auch das Gesamtvolumen an Informationen und damit die psychische Entropie zu. Interessant ist vor allem die relative Zu- und Abnahme von Entropie im Gehirn durch Reizverarbeitung, Lernen & Kreativität.
Der Mensch verarbeitet Reize durch Kreativität und gibt dabei Entropie ab
Lebende Organismen nehmen über Sinnesrezeptoren Reize aus der Umgebung auf, verarbeiten sie intern und üben mit ihrem Verhalten eine Reaktion auf ihre Umwelt aus.
Die Verarbeitung zwischen Reiz und Reaktion kann ganz instinktiv und automatisch ablaufen, wie bei angeborenen Reflexen und eingeschliffenen Gewohnheiten. Der Raum zwischen Reiz und Reaktion bietet aber auch Raum für kreative Verhaltensweisen, die Eindrücke zu verarbeiten.
Beim Menschen spielen kognitive Prozesse eine Rolle zwischen Reiz und Reaktion. Dies ist in dem Schaubild rechts dargestellt: auf einen Reiz folgt eine Wahrnehmung und es entsteht ein mentales Bild, welches dem Reiz z.B. eine Bedeutung gibt. Je nach Reiz verändert sich der innere Zustand und damit Gefühle, Gedanken und Körperempfindungen. Aus dieser inneren Reaktion entsteht eine Intention für das Verhalten, welches letztlich auf die Umwelt wirkt.
Kreativität ist hier die Fähigkeit, Reize auf neuartige Art und Weise zu verarbeiten und dabei auch neuartige Verhaltensweisen zu entwickeln. Da der Mensch als lebendiges System in seiner Selbstorganisation die innere Entropie verringert, greift er dabei auf seine Kreativität zurück, um die Entropie so gering wie möglich werden zu lassen und probiert dafür interne und externe Verhaltensweisen aus.
Dieser Reizverarbeitungsprozess sowie sämtliche andere Lebensprozesse brauchen Energie. Diese nimmt der Mensch über Nahrung und Luft aus der Umgebung auf. Dadurch kann die innere Entropie des Menschen reduziert werden, wobei also auch unwahrscheinliche innere Zustände des Menschen entstehen können. Z.B. kann eine besondere Vision oder ein ungewöhnliches Gefühl auftauchen. Dieses kann wiederum in ungewöhnlichen, neuartigen Verhaltensweisen ausgedrückt werden, z.B. in einem Lied oder Kunstwerk.
Während das menschliche System seine Entropie minimiert, gibt es Entropie an die Umgebung ab, z.B. in Form von Abwärme.
Psychologische Entropie & Kreativität
Psychologische Entropie ist ein Maß für innere Unsicherheit, die Angst auslösen kann. Dies ist zunächst unangenehm, weswegen der Mensch versucht, diese innere Entropie so gering wie möglich zu halten [1]. Innere Prozesse des Menschen sind aber sehr komplex und so kann bei einigen Menschen ein großes Maß an Unsicherheit womöglich auch positive Erregung auslösen, wie bei Extremsportlern beobachtet werden kann. Dies ist natürlich auch abhängig von den Ressourcen, der potenziellen Energie, die ein Organismus der Unsicherheit entgegenstellen kann. Positive Ressourcen sind z.B. Kompetenzen und Erfahrungen der erfolgreichen Bewältigung von innerer Unsicherheit. Je nachdem, wieviele Ressourcen ein Mensch mitbringt, kann also die psychische Entropie mit großem seelischen Leiden einhergehen oder eine Chance sein, zu lernen und neue Ressourcen aufzubauen … mehr zu Trauma & persönliche Entwicklung.
Kreativität nutzt die inneren Ressourcen, um psychologische Entropie zu minimieren. Der kreative Geist kann die kognitiven und emotionalen Elemente in sich verändern und der Organismus sich an seine Umgebung anpassen. Kreativere Menschen haben dabei eine größere Offenheit für Erfahrungen und eine höhere Toleranz für Ambiguitäten, wodurch sie toleranter gegenüber Unsicherheit sind [3]. Weiterhin ist bekannt, dass kreative Menschen eine größere Vielfalt an Erregungsmustern zeigen [4]. Damit sind sie fähig, unangenehme Situationen mit großer psychologischer Entropie zu verarbeiten und können diese auch positiv erleben und kreativ auflösen.
Transformation durch Kreativität
Das erfolgreiche Reduzieren der psychologischen Entropie verschafft dem Organismus ein Erfolgserlebnis: eine neue Verhaltensweise wurde erlernt und es entstehen neue Ressourcen für zukünftige Herausforderungen. Durch diesen kreativen Prozess kommt es zu einer internen Transformation durch den Aufbau neuer Fähigkeiten. Die neuen Ressourcen erhöhen die potenzielle Energie, also die Fähigkeit des menschlichen Systems, in Zukunft ähnliche Arbeit zu verrichten. Der Prozess des Aufbauens neuer Ressourcen selbst kann dabei ein neues Erfolgserlebnis auslösen in der Erwartung, in Zukunft den eigenen Organismus erfolgreich zu organisieren. Und gleichzeitig kann mit den neuen Ressourcen eventuell auch weitere psychologische Entropie verringert werden, die bisher in dem Organismus fortbestand und aufgrund fehlender Ressourcen nicht reduziert werden konnte. So kann erklärt werden, dass Kreativität und kreativer Selbstausdruck an sich erfüllend sind für einen Menschen [5] und warum Kreativität eine positive therapeutische Wirkung, insbesondere bei der Verarbeitung von Trauma hat [6].
…mehr zu Kreativität & Trauma
Somit gilt auch, dass die Auseinandersetzung mit psychologischer Entropie, z.B. durch offene Fragen und intellektuelle Provokationen zum Beginn eines kreativen Prozesses werden kann. Der kreative Prozess kann dann iterativ ablaufen, indem stetig neue psychische Entropie verarbeitet wird, bis die dadurch entstandene Erregung abgeklungen ist. Sowohl das innere Material wurde transformiert als auch die Umgebung, die zum Gegenstand des kreativen Prozesses wurde.
Lernen als transformativer, kreativer Prozess und neuronale Synchronisation
Der Verarbeitungsprozess, in dem negatives psychologisches Material durch Kreativität transformiert wird, kann als Lernen bezeichnet werden.
Dabei synchronisieren sich Millionen von Neuronen, indem sie im gleichen Rhythmus schwingen, und neue Ressourcen, z.B. Kompetenzen und Erinnerungen, aufbauen (mehr zur Neurobiologie der Kreativität). Je mehr angenehmes oder neutrales Material in diesen Prozess eingearbeitet werden kann, desto größer ist die Chance auf eine erfolgreiche Transformation: assoziatives, divergentes Denken, fördert die Verknüpfung zwischen scheinbar unterschiedlichen, aber potenziell nützlichen oder interessanten Möglichkeiten und Ideen. Ein änhliches Prinzip, neutrale Reize zur Stabilisierung zu nutzen, kommt auch in der Traumatherapie, z.B. im EMDR und Somatic Experiencing vor. Kreative Umstrukturierungen können also kognitive Dissonanzen reduzieren und bisher unterdrückte Emotionen verarbeiten und integrieren.
Dieser kreative Prozess in einem Menschen, der sich schöpferisch mit negativem psychologischen Material auseinandergesetzt hat, kann dabei auch das Umfeld transformieren. Die Menschen, die eine Rolle gespielt haben, erfahren dadurch auch passiv eine Umstrukturierung, genauso wie Elemente der Kultur einer Gesellschaft. So können zum Beispiel Meditation oder Fuck-Up-Nights (ähnlich dem Beichten) als kulturelle Innovation gesehen werden, die aus einem kreativen Prozess entstanden, der psychologische Entropie verringert. Als Teil der Kultur wird dies zu einem Austausch zwischen sich selbst-organisierenden Organismen.
Seelisches Leiden kann zum schöpferischen Prozess führen und zum Aufbau neuer Ressourcen.
Psychologische Entropie treibt also nicht nur die kreativen Prozesse des einzelnen Menschen an, sondern auch die kulturellen Prozesse, die unseren Planeten verändert haben. [1]
Neurobiologie der Kreativität | Trauma aus Sicht der Neurobiologie | Selbstcoaching | Achtsamkeit & Meditation | Hypnose | Eine Geschichte als Beispiel für eine sehr kreative Transformation eines psychischen Leidens | Trauma, Entropie & Kreativität
Quellen
[1] Hirsh, J. B., Mar, R. A., Peterson, J. B. Psychological entropy: A framework for understanding uncertainty-related anxiety. Psychological Review 2012, 119, 304- 320.
[2] Gabora, Liane. (2016). A Possible Role for Entropy in Creative Cognition. E001. 10.3390/ecea-3-E001.
[3] Feist, G. J. A meta-analysis of personality in scientific and artistic creativity. Personality and Social Psychology Review 1998, 2, 290-309.
[4] Martindale, C., Armstrong, J. The relationship of creativity to cortical activation and its operant control. Journal of Genetic Psychology 1974, 124, 311-320.
[5] Hennessey, B. A., Amabile, T. Creativity. Annual Review of Psychology 2010, 61, 569-598.
[6] Forgeard, M. Perceiving benefits after adversity: the relationship between selfreported posttraumatic growth and creativity. Psychology of Aesthetics, Creativity, Arts 2013, 7, 245-264.
Hallo,
Ich komme ursprünglich aus der Soziologie mit Nebenfach Psychologie und beschäftige mich gerade mit verschiedenen systemtheoretischen Feldern. Das ist der erste Beitrag der mir gut erklärt hat, was Entropien in diesem Zusammenhang bedeuten.
Dankeschön.
Hallo,
Betr .: Psychologie trifft Physik . Darstellung war interessant und hat mir gefallen.
MfG Klaus