Vorweg: Es ist leicht, kritisch zu sein – weniger leicht, ein erfolgreiches System zu verantworten. Das deutsche Schulsystem bildet jedes Jahr erfolgreich Millionen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus. Dennoch ist Kritik wichtig: sie gibt den Entscheidern und Gestaltern Feedback, wie sie das System noch besser bauen können.
Dieser Artikel hat angefangen mit 4 Kritikpunkten. Dank des Feedbacks der Leserinnen und Leser habe ich ihn inzwischen auf 7 Kritikpunkte erweitert.
7 soziale Kritikpunkte am deutschen Schulsystem
- Würfelglück: eine erfolgreiche Schullaufbahn hängt wohl maßgebend davon ab, wieviel Glück ein Kind hat darin, in welcher Umgebung es landet. Insbesondere kann kein Kind etwas für:
- Elternhaus (deren Bildungsgrad, Vermögen, sozialer Status)
- Schulqualität der konkreten Grund- und weiterführenden Schulen, auf die ein Kind geht
- Lehrkompetenz der konkreten Lehrerinnen und Lehrer
- Frustration und Erschöpfung: Eigentlich ist Neugier ein natürlicher Antrieb und Lernen & Entdecken etwas schönes, aber durch dauerhaften Leistungsdruck, Mangel an Freude und Humor und Herzlichkeit, mehr extrinsischer Motivation (Noten, Strafen, Zeugnisse, von außen vorgegebene Regeln) als intrinsischer (Wirksamkeit, Gemeinschaft, Interaktion, Neugier, Ausprobieren) kann mit der Zeit Frustration und Ausgebranntsein entstehen
- Schulnarben: sehr viele Menschen berichten von negativen Erfahrungen der Schulzeit, zugefügt durch lieblose Lehrer Pädagogen. Dazu zählen vor allem traumatisierende Erfahrungen in Form von negativen Bewertungen der Persönlichkeit und Identität („Du bist dumm“ statt „in dem Test konntest du Aufgabe XY noch nicht so gut lösen“), Ausgrenzungs- und Mobbingerfahrung, Strafen und ggf. Demütigungen.
Dies geschieht auch in allen anderen Bereichen des menschlichen Lebens: auf Arbeit, in Familien, im Freundeskreis. Allerdings hat die Schule eine besondere Verantwortung, weil sie ja systematsich Kinder erzieht und prägt und durch pädagogisch ausgebildetes Personal viel Macht über Kinder hat.- Lieblosigkeit mag noch zunächst harmlos klingen – aber alle Menschen sind unsicher und brauchen Verbundenheit und möchten gesehen werden. Wenn diese Bedürfnisse nicht erfüllt werden, entsteht Frustration und das Zurückhalten von Energie.
- Gewalt: zu meiner Grundschulzeit Mitte der 1990er war es normal, dass die Mathelehrerin Kinder bei schlechten Leistungen einem Kind mit dem Hefter auf den Kopf schlug).
- Seelische Verletzung: Menschen sind unterschiedlich empfindlich – wenn soziale oder emotionale Reize oder Verhalten von anderen Menschen die Verletzlichkeit eines Menschen trifft, dann entstehen seelische oder emotionale Verletzungen
- „Mathe ist nichts für Mädchen“ ist bis heute ein üblicher Glaubenssatz
- Selektionsfunktion: Das deutsche Schulsystem ist bekannt für seine starke Selektion, die bereits in der Grundschule beginnt. Ab der vierten Klasse werden die Schülerinnen und Schüler auf unterschiedliche Schulformen verteilt, je nach ihrem Leistungsniveau. Diese Selektion ist z.B. von Arbeitgebern und Universitäten gewollt, um eine leichtere Auswahl zu haben für die Zulassung zu Studienplätzen und Berufen – die „ausselektierten“ Schüler können dies aber als langfristige Selbstwertverletzung oder soziale Abwertung verschleppen:
- Diese Selektionsfunktion kann dazu führen, dass Kinder frühzeitig als „leistungsschwach“ oder „nicht gymnasial geeignet“ eingestuft werden und somit benachteiligt werden. Obwohl die Leistungsfähigkeit eines Menschen sehr flexibel ist, kann sich dadurch ein negatives Selbstbild verfestigen und ein dauerhafter Teufelskreis entstehen.
- Die Selektion kann dazu führen, dass Schülerinnen und Schüler sich frühzeitig unter Druck gesetzt fühlen, da sie sich bereits in jungen Jahren entscheiden müssen, welchen Bildungsweg sie einschlagen möchten. Dies kann zu einer Fehlentscheidung führen, die langfristige Auswirkungen auf ihre Bildung und ihre Karriere haben kann.
- Zudem kann die Selektion im deutschen Schulsystem auch dazu führen, dass bestimmte Gruppen von Schülerinnen und Schülern, wie beispielsweise Kinder mit Migrationshintergrund oder aus sozial schwächeren Familien, benachteiligt werden. Diese Schülerinnen und Schüler haben oft nicht die gleichen Chancen wie ihre Mitschülerinnen und Mitschüler und werden in niedrigere Schulformen eingestuft.
- Weltfremdheit:
- Lehrer sind Schüler, die nach der Schule in die größere Hochschule gehen, um dann wieder für den Rest des Arbeitslebens an eine Schule gehen. Das Bildungssystem ist damit relativ geschlossen bezüglich Inspiration von außen. Dazu ist zu befürchten: besonders diejenigen Schüler, die autoritätsfürchtig waren, sind bestrebt, selbst zu einer Autorität zu werden – zum Beispiel zu Lehrern, die später ihre Autorität gegenüber Schülern ausspielen. Autoritäten sind per se nichts schlechtes, aber sie haben eben eine Machtwirkung und können daher besonders leicht diejenigen seelisch verletzen, die ihnen untergeordnet sind (siehe Punkt 2).
- Jugendliche in der Pubertät stellen oft zurecht in Frage, warum sie in die Schule gehen und was sie dort tun – es wäre deutlich leichter für alle Beteiligten, wenn sie in dieser Zeit die Welt außerhalb der Schule stärker erkunden könnten – und damit auch sehen, warum es sich lohnt, Zeit und Arbeit in die eigene Bildung zu investieren.
- Trägheit: Das Schulsystem repräsentiert eine Welt von gestern.
Pünktlich, fleißig, ordentlich und brav – das sind die Kriterien für gutes Verhalten in der Schule. Damit werden unterwürfige Pflichterfüller erzogen, zumindest nicht kritisch denkende Unternehmer oder gesellschaftlich pro-aktive Menschen. Dies war vor allem notwendig in der Zeit der Industrialisierung, die ja aber Gottseidank vorbei ist. Im Zeitalter von Digitalisierung und Klimawandel brauchen wir mündige Menschen, eher ausgebildet nach den 21st Century Skills. - Bürokratie über menschlicher Bedürfnisse: Schule hat mehrere Schichten bürokratischen Überbaus: Schulleitung, Schulträger, Schulaufsicht, Schulamt, Kultusminister, Bundesministerium. Natürlich haben alle auch einen sinnvollen Zweck, aber sie bringen auch Trägheit und Starrheit in das tägliche Erleben von Kindern, Lehrern und Eltern in Form von Lehrplänen, Versicherungen
Akutes Problem: Lehrermangel
Wenn Menschen unter Druck stehen, es an Herzlichkeit und Verbundenheit mangeln und wenig Raum für individuelle Entwicklung herrscht, entsteht Frustration und Resignation. Wenn sich dann noch andere Möglichkeiten bieten, gibt es wenig Grund, an einer unattraktiven Schule arbeiten zu wollen.
Kritik: Mögliche Gründe für den Lehrermangel
- allgemeiner Fachkräftemangel, daher auch attraktive andere Jobperspektiven für Lehrer, die keine Lust mehr auf ihren Job haben (zum Beispiel in der Erwachsenenbildung, in Verlagen, in anderen pädagogischen Berufen und solchen, die mit Menschen arbeiten)
- Negative Schulkultur: Kultur ist die Summe aller Kommunikation in Form von Gesprächen, Nachrichten, Ritualen, Emotionen, Gedanken, Werten, Leitgedanken und Verhaltensweisen. Wenn die Kommunikation eher negativer Natur ist, entstehen neue Verletzungen, Vorsicht, Angst, Frustration, Aggression oder Rückzug.
- Frustration und Erschöpfung: wenn wenig positive Energie fließt, aber dafür auch noch schnell verkümmert, ist es persönlich besser, den Arbeitsort zu wechseln.
Lösungbausteine für den Lehrermangel
Lehrermangel braucht, als spezielle Form des Fachkräftemangels, das gleiche, wie jede Organisation, die in einer Sinnkrise steckt: eine positiven Ausblick und liebevolle Zuwendung für den Aufbau einer attraktiven Kultur. Dafür könnte es folgende Lösungsbausteine für erfolgreiche Schulkultur, gegen Lehrermangel geben:
- Herzliche Atmosphäre: Wo hältst du dich lieber auf: In einer Umgebung, die von Herzlichkeit, Vertrauen, Ehrlichkeit und Offenheit geprägt ist – oder in einer Atmosphäre von Misstrauen, Angst und Lästern? …mehr dazu unter GFK und aktives Zuhören
- Future Skills fördern: zusammengefasst als Kritische Ko-Kreativität: in einer Welt, in der KIs und Roboter mehr und mehr monotone Tätigkeiten und Denkprozesse übernehmen, sind unsere menschlichen Fähigkeiten ausschlaggebender denn je, insbesondere Kreativität, Kollaboration und kritisches Denken … mehr zu 21st Century Skills
- Führungskompetenz-Trainings: für die entscheidenden Personen, also vor allem Schulleitung, Lehrkräfte und weiteres Personal, erfahren Training und Supervision in ihrer Kommunikation. Führungskompetenz in Sinne von Management, Leadership und Coaching, zum Beispiel entlang spannungsbasiertem Arbeiten (auch bekannt als „New Work“).
- Funktionale Beteiligungs-Prozesse, um sowohl Schüler als auch Eltern und Bürokratie mitzunehmen bei wichtigen Entscheidungen und um Innovation zuzulassen, insbesondere über Systemisches Konsensieren, zum Beispiel unterstützt durch aula
- Agile Schulentwicklung, um immer wieder Veränderungsimpulse aufzunehmen und zu integrieren
Perspektiven einer Kritik am deutschen Schulsystem
Ich habe schon einige verschiedene Perspektiven auf das Schulsystem geworfen und glaube, dass es gut ist, all diese Perspektiven abzuwägen.
- Schüler: Erfahrungen der eigenen Kindheit und Jugend im deutschen Schulsystem
- Referendar und Lehrer: an 3 Schulen in Deutschland (davon 2 konventionelle, 1 alternativ-pädagogische)
- Vater eines Kindes, welches in eine Berliner Schule geht
- Doktorand in Didaktik
- Berater für Schulen, vor allem zu Schulentwicklung, aber auch spezielle Trainings zu Design Thinking oder Team-Kommunikation
- Coach & Trainer für pädagogische Einrichtungen, Unternehmen der Erwachsenenbildung
- Deutscher Staatsbürger, also Mitglied einer Nation mit 80 Millionen Einwohnern
- Unternehmer, der kompetente Mitarbeiter braucht
- Mensch: Spezies Homo Sapiens, Ordnung der Primaten, Klasse der Säugetiere
Weitere Kritik am deutschen Schulsystem
- Die Schulstruktur außerhalb des direkten Schulabschlusses ist kompliziert und unübersichtlich, was für Eltern und Schüler oft verwirrend ist.
- Der Leistungsdruck in Schulen ist oft hoch, was zu Stress und Burnout bei Schülern führen kann.
- Die Digitalisierung in Schulen ist noch nicht ausreichend umgesetzt, was die Vorbereitung der Schüler auf die digitale Arbeitswelt beeinträchtigen kann.
- Es gibt regionale Unterschiede in der Qualität des Schulsystems, insbesondere zwischen ländlichen und urbanen Gebieten.
- Es gibt wenig Flexibilität im Schulsystem, was es schwer macht, individuelle Fähigkeiten und Interessen der Schüler zu fördern.
Allerdings gibt es auch viele positive Aspekte des deutschen Schulsystems.
Was macht das deutsche Schulsystem aus?
- frühzeitige Selektion nach der 4. Klasse auf die unterschiedlichen Schularten (Hauptschule, Realschule, Gymnasium)
- Ambivalenz zur Inklusion von SchülerInnen mit Förderbedarf, ob dies an Förderschulen oder eingebettet in Regelschulen geschehen sollte
- Selektion nach Noten
- Standardisierte Abschlussprüfungen (Mittlerer Schulabschluss nach der 10. Klasse, Abitur nach 12./13. Klasse)
- Förderalismus: relativ großer Spielraum für die Bundesländer in der Ausgestaltung der Schulstruktur
- Standardisiertes Klassensystem: Schüler müssen eine Klasse nach der anderen abschließen mit relativ starren Vorgaben zu deren Erfolgskriterien, damit gibt es wenig Raum für die individuelle Entwicklung
- kognitiv anspruchsvolle, aber nicht notwendigerweise pädagogisch wertvolle Lehrerausbildung über Lehramtsstudium und Referendariat (1-2 Jahre), gegenüber pädagogischen Hochschulen wie früher in Dtl. oder in der Schweiz
Erfolge und positive Merkmale des deutschen Schulsystems
- es werden fachlich kompetente Lehrer ausgebildet
- Kinder werden von der Straße ferngehalten
- Deutschland ist international anerkannt für seine sehr kompetenten Fachkräfte, insbesondere Ingenieure, Mediziner, bis zur NS-Zeit war die deutschsprachige Wissenschaft in eigentlich allen Wissenschaften bahnbrechend (zum Beispiel Einstein, Lise Meitner, Heisenberg, Robert Koch, Mendel, Zuse, Freud und Jung, Alfred Wegener)
- die deutsche Wirtschaft ist eine der erfolgreichsten der Welt und schafft dies zum Großteil durch die Absolventen und Abbrecher des deutschen Schulsystems
Lösungsbausteine für die Transformation des Schulsystems
Eine Systemtransformation ist sehr komplex und muss auf mehreren Funktionsebenen geschehen, zum Beispiel
- Individualisierung und Binnendifferenzierung der inhaltlichen Schwerpunkte und des Lernprozesses bzgl. Tempo, Rhythmus, Sozialform
- Growth Mindset zur Förderung von Selbstwirksamkeit und Resilienz, um Hindernisse und Rückschläge zu überstehen
- Coaching der Schülerinnen und Schüler hin zur Berufungsfindung (z.B. mit Ikigai)
- Design Thinking, um ein schönes System und eine schöne Schulkultur zu gestalten
- Bewusstseinsentwicklung z.B. nach Spiral Dynamics
- Gamification, sodass Lernen Spaß macht und die intrinsische Motivation der Schülerinnen aufgreift
- Feedback–Schleifen, sodass eine flexible, lernende Organisation stattfinden kann
- Agile Schulentwicklung
Ziel: Schule als lernendes System
Eine lernende Organisation ist eine Organisation, die kontinuierliches Lernen, Innovation und menschliche Entwicklung priorisiert. Sowohl Organisationen als auch Einzelpersonen lernen ständig weiter. Eine lernende Organisation ist bestrebt, eine Umgebung zu schaffen, in der alle Beteiligten ständig ihr Wissen und ihre Fähigkeiten erweitern können, um bessere Ergebnisse zu erzielen und Wettbewerbsvorteile zu erlangen. Dies erfordert eine offene Kommunikation, eine Kultur des Vertrauens und die Fähigkeit, aus Fehlern zu lernen und sich anzupassen.