Seelischer Schmerz: 5 Tore zur Lebendigkeit

Ich wurde inspiriert durch ein Buch des Psychotherapeuten Francis Weller mit dem Titel The wild edge of sorrow. Es geht um seelischen Schmerz, Trauer und insgesamt den Umgang mit innerem Leiden. In diesem Text mache ich einen Streifzug durch Ideen von Francis Weller und allgemeine psychologische Modelle zu Trauer, seelischen Schmerz und die Konfrontation mit dem Tod.

5 Tore des Schmerzes

Weller benennt fünf Ursachen von seelischem Leid als „Tore des Schmerzes“:

  1. Liebe wird zu Verlust
  2. Innere Anteile ohne Liebe
  3. Schmerz der Welt
  4. Unerfüllte Wünsche
  5. Schmerz unserer Ahnen

Diese Bezeichnungen sind, wie weite Teile des Buches, in metaphorischer, poetischer Sprache verfasst. Hier sind ein paar mögliche Beispiele zum Verständnis:

  1. Verlust: Trennung, chronische Krankheit, Tod eines nahestehenden Menschen
  2. Anteile ohne Liebe: Entbehrungen in der Kindheit, Mobbing, Scham über Makel
  3. Schmerz der Welt: Ohnmacht gegenüber Umweltzerstörung, Krieg, Hunger, Armut
  4. Unerfüllte Wünsche: Einsamkeit, Mangel an Gemeinschaft, unverwirklichte berufliche Träume
  5. Schmerz der Ahnen: transgenerationale Traumata, von Eltern übernommene Blockaden Glaubenssätze

Weller beschreibt die Entfremdung von der Natur und dem Leben in Gemeinschaft als zentrale gesellschaftliche Hürden gegenüber einem natürlicheren Umgang mit Trauer und Verlust. Er kritisiert auch die Einzel-Psychotherapie eine Form von Isolierung des Umgangs mit Leiden.

Integration des seelischen Schmerzes

Integration des Schmerzes geschieht, wenn der Schmerz in einer dafür offenen und achtsamen Gemeinschaft mit-geteilt werden kann. Im besten Fall gibt es dafür in der Gemeinschaft Rituale, in denen alle Beteiligten einen seelischen Schmerz mitteilen, angehört werden und die Leiden der anderen ebenso anhören, z.B. in Form eines Trauerfeuers. Durch das kollektive Mitgefühl und die Verbundenheit im Schmerze kann die dahinter liegende blockierte Energie sich wandeln in ein erfüllendes Erlebnis.

Weller empfiehlt eine 3-phasige »Bewegung« (moves) für die inneren Anteilen ohne Liebe (2.). Diese seien besonders vertrackt, da wir uns zunächst für sie schämen und sie geheimhalten wollen:

  1. Von „Ich bin wertlos“ zu „ich bin verwundet“
  2. Von Verachtung zu Mitgefühl
  3. Aus der Stille zum Mitteilen

Das Mitteilen sollte jedoch nur an dafür offene, achtsame Personen oder im Rahmen eines Rituals geschehen, wofür Weller Goethes Gedicht „Selige Sehnsucht“ zitiert:

Selige Sehnsucht

Sag es niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet:
Das Lebendge will ich preisen,
Das nach Flammentod sich sehnet.

[…]

Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.

 

Rituale zum Umgang mit seelischem Schmerz

Francis Weller nennt in seinem Buch traditionelle Rituale für den Umgang mit seelischem Schmerz. Die für mich schönsten Ideen waren:

  • Trauerfeuer: in einer Gruppe nimmt jede Person ein Stück Holz und gibt es ins Feuer – und mit dem Verbrennen des Holzes erzählt die Person von dem Schmerz, den sie »ins Feuer gibt« zur Transformation. Alle anderen schweigen dabei und schenken der erzählenden Person ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.
  • »Trage die Last mit mir«: Lege dich auf den Boden und fühle die Schwere deines Körpers unter der Schwerkraft. Bitte die Erde darum, nicht nur dein Gewicht zu tragen und anzuziehen, sondern auch die seelische Last. »Liebe Erde, eine trage eine schwere Last, sie ist zu schwer für mich. Bitte nimm etwas von der schweren Last von mir und trage es für mich.« Dabei tief und ruhig atmen.
  • Tanzen, um die körperlichen Spannungen auszudrücken und durch die körperliche Bewegung dabei zu entspannen

Weitere Formen könnten sein: jeglicher künstlerischer Ausdruck, zum Beispiel Malen oder Handwerk, Schreiben eines Trauertagebuchs, Singen oder auch sonstige Formen von Selbsthilfegruppen und bewusster Gemeinschaft.

Exkurs: Die fünf Phasen der Trauer nach Kübler-Ross

Die Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross entwickelte das nach ihr benannte Modell der „Trauerkurve“, welches einen typischen Verlauf von Trauerbewältigungsprozessen beschreibt. Auch wenn nicht jedes Trauern läuft so abläuft, ist es nützlich um sich die intensive Emotionsdynamik bewusst zu machen. Dies sind die 5 Phasen nach Kübler-Ross, welche sie vor allem aus der Perspektive von todkranken Menschen beschrieb, nachdem diese über ihre tödliche Krankheit informiert wurden:

  1. Leugnung: Die Krankheit wird verleugnet, „das darf nicht sein, das kann nicht sein“
  2. Ärger: Wut; Neid auf alle, die nicht betroffen sind, „Warum ich?“
  3. Verhandlung: Verhandlung mit Gott, seinem vergangenen selbst, mit der Hoffnung, etwas ändern zu können oder von Gott belohnt zu werden
  4. Resignation: Aufgeben, gegen die Realität anzukämpfen.
  5. Integration: Die Akzeptanz führt zu einem neuen Zustand. Ist Akzeptanz nicht möglich, kann es auch zur Depression kommen.

kübler-ross-trauer-seelischer schmerz

Diese beispielhafte Emotionsdynamik, welche in ähnlicher Form auch bei Angehörigen stattfinden kann, oder wenn sonstige Verluste eintreten, zum Beispiel bei Krankheiten, Diebstahl oder Verlust des Arbeitsplatzes.

Posttraumatisches Wachstum

Erfolgreiche Integration der Trauer ähnelt dem posttraumatischem Wachstum: Nachdem ein Trauma erlebt und verarbeitet wurde, kann es zu einer Intensivierung des Bewusstseins für das Schöne am Leben kommen:

  • Mehr Dankbarkeit und Wertschätzung für das Leben, erhöhte Wahrnehmung von bisher für selbstverständlich gehaltenen Ressourcen und Stärken
  • Intensivierung von persönlichen Beziehungen mit nahestehenden Menschen, oft mit erhöhter Empathie
  • Entdeckung von neuen Möglichkeiten im Leben, von sinnlichen Reizen, Reisen, Genuss von Essen oder Bewegung oder Kultur, neuen Hobbies oder Netzwerken
  • Transzendenz, spirituelles Bewusstsein, Bewunderung der Existenz des eigenen Lebens bzw. auch des Lebens und der Welt als Ganzes

Damit kann Trauer und seelischer Schmerz im Nachhinein auch als etwas positives gesehen werden.

Seelischer Schmerz als Schlüssel für Persönlichkeitsentwicklung

Gäbe es kein Leid und keine unerfüllten Sehnsüchte, gäbe es auch kaum eine Weiterentwicklung des Geistes und der Seele. Um den erlittenen seelischen Schmerz zu verstehen und zukünftig zu vermeiden, baut der Organismus mehr Ressourcen auf, um zukünftig besser gewappnet zu sein. So ähnlich wie Muskelaufbau durch Superkompensation: gerät der Körper an seine Grenzen beim Training, baut er systematisch Muskeln auf, um zukünftig stärker zu sein.

Milton Erickson prägte den Begriff der Utilisation: der seelische Schmerz wird genutzt für die positive Persönlichkeitsentwicklung des Klienten. Er nutzte dies auch teils gezielt in Form von paradoxer Intervention.

In der Psychoanalyse heißt dies Sublimierung: ein nicht ganz verarbeitetes Leiden wird sukzessive umgewandelt in einen kreativen Entwicklungsprozess. Dies kann in einer Karriere oder in künstlerischer Verarbeitung münden. Ebenso ist ein Antrieb für viele Künstlerinnen und Künstler, beispielsweise

  • Frieda Kahlo, die durch einen Autounfall ihre Fruchtbarkeit verlor und lebenslang unter starken Schmerzen litt,
  • Herrmann Hesse, der als Jugendlicher unter der engstirnigen Kleinbürgerlichkeit und autoritären, katholischen Erziehung im Internat litt, und dies in seinen Büchern verarbeitete (Unterm Rad, Narziss und Goldmund, Steppenwolf)
  • Astrid Lindgren, die sich als junge Frau aufgrund gesellschaftlicher Normen gezwungen sah, ihr uneheliches Kind zur Adoption zu geben, und daraufhin anfing Kinderbücher von besonders mutigen Kindern zu schreiben, die den gesellschaftlichen Konventionen trotzen

Schmerz & Kreativität

Die Kreativität eines Menschen wird durch seelischen Schmerz angetrieben,

  1. durch einen Geist und Körper, der genug Ressourcen hat, um etwas sinnvolles aus den Ressourcen zu machen
  2. durch seelischen Schmerz, der dazu antreibt, den Schmerz künftig zu vermeiden und daher neue Lösungen zu kreieren

Der seelische Schmerz ist damit eine Form von kreativer Spannung, die einen kreativen Prozess in Gang setzt, unbewusst durch Träume oder bewusst und kanalisiert durch künstlerische Praxis oder Kreativitätstechniken.

…siehe: Psychologische Entropie – Psychologie trifft Physik

Konfrontation mit dem Tod

Einige Menschen mit Nahtoderfahrungen berichten von ihren Erlebnissen als Katalysator für Spiritualität und höheres Bewusstsein. Viele spirituell neugierige Menschen versuchen daher, diese Erfahrung zu simulieren – natürlich möglichst ohne echte gesundheitliche Risiken. Möglichkeiten dafür sind zum Beispiel:
(Anmerkung: dies sind natürlich keine Empfehlungen, nur beschreibende Erwähnungen – bitte immer vorher gesundheitliche Risiken ggf. ärztlich abklären und sichere Rahmenbedingungen gewährleisten)

  • Atemtechniken, vor allem intensives tiefes Atmen
  • Trance durch Hypnose, Autogenes Training,
  • Gezielte Imagination des eigenen Lebensendes und Dialog mit dem imaginierten sterbenden Ich

Die gezielte Imaginationstechnik zur Visualisierung des eigenen Todes wird auch als Technik in der existenziellen Therapie oder der kognitiven Verhaltenstherapie genutzt, wie im folgenden Schaubild illustriert, zur Regulierung bzw. Relativierung von Stress und Ärger:

Kognitive Verhaltenstherapie - Konfrontation - Wolke - Tod und Sterbebett - Leben Priorität

Literaturverweise

Kübler-Ross, E. (1969). On death and dying. New York, NY: Scribner.
(Deutsche Ausgabe: Kübler-Ross, E. (1971). Interviews mit Sterbenden. Freiburg: Kreuz Verlag.)

Moody, R. A. (1975). Life after life. New York, NY: HarperOne.
(Deutsche Ausgabe: Moody, R. A. (1977). Leben nach dem Tod. München: Droemer Knaur.)

Tedeschi, R. G., & Calhoun, L. G. (1996). The posttraumatic growth inventory: Measuring the positive legacy of trauma. Journal of Traumatic Stress, 9(3), 455–471. https://doi.org/10.1002/jts.2490090305

Weller, F. (2015). The wild edge of sorrow: Rituals of renewal and the sacred work of grief. Berkeley, CA: North Atlantic Books.

Yalom, I. D. (1980). Existential psychotherapy. New York, NY: Basic Books.

Weitere Methoden und Modelle

… um mit seelischem Schmerz zu leben & lernen:

Mehr zu seelischem Schmerz und Trauma:


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