Gruppendynamik: Das Homo Sapiens Theater ++ 4 Ränge, 3 Rollen, 4 Phasen ++

Gruppendynamik beschreibt die zeitliche Entwicklung von sozialen Strukturen – also Gruppen, Familien, Teams, Organisationen, Gesellschaften. Gruppendynamik lässt sich leichter verstehen, wenn wir uns Menschen als Säugetiere und Primaten vorstellen – Homo Sapiens eben. Denn die wesentlichen Kräfte von menschlicher Interaktion und Konflikten in Gruppen ergeben aus der Biologie und Evolutionstheorie.

Gruppen sind manchmal wie ein beruhigender, stiller Bergsee – und manchmal haarige, feuerspuckende Giftmonster. Egal, wie souverän du bist – Gruppendynamik kann dich in die Knie zwingen – oder zu deinem ultimativen Meister werden.

In diesem Artikel erkläre ich die Rang-Struktur von Gruppen und erkläre daran typische Dynamiken (Teil I) und zeige dann auf, wie diese überwunden und sinnvoll neugestaltet werden (Teil II). Dynamik bedeutet vor allem, dass es Hochs und Tiefs gibt – mit Euphorie und Konflikten. Jenseits von – tendenziell unbewussten – Hochs und Tiefs gibt es Zustände von Gruppen im bewussten, stabilen Gleichgewicht – dies ist ein zentrales Ziel der Moderation von Gruppendynamik: Frieden. Um Frieden zu erreichen, müssen wir Konflikte verstehen – fangen wir also damit an!

Teil I – Gruppendynamik verstehen

Die wichtigste Ursache für Gruppendynamik sind zwischenmenschliche Konflikte. Konflikte bringen Spannung in das menschliche Miteinander – und Spannung sorgt für Bewegung der darin befindlichen Körper – mit dieser Bewegung entsteht Dynamik.

Ursachen für Konflikte sind:

    1. die Unterschiede zwischen Persönlichkeiten, Kulturen, Kommunikationsmustern, Bedürfnissen und Erwartungen
    2. Verteilung von begrenzten Ressourcen
    3. Stress und emotionale Anspannungen, die nicht immer aus der Gruppe selbst kommen müssen (hitzige Atmosphäre), insbesondere auch durch Trauma
    4. Rang-Konflikte

Während Charakterunterschiede (a) und Ressourcenverteilung (b) rational leicht zugänglich sind, können emotionale Spannungen (c) und Rang-Dynamiken (d) oft nicht bewusst durch die Gruppenmitglieder wahrgenommen werden – sie stammen oft aus „unsichtbaren“ Quellen (Konditionierungen, kulturelle Unterschiede, unaufgedeckte Dominanz oder Diskriminierung eines Gruppenmitglieds). Deswegen lohnt es sich, die animalischen Anteile in uns besonders vehement zu reflektieren, um sie in einer Dynamik besser wachrufen zu können. Schauen wir also auf Ränge!

Ränge und Hierarchien bei Menschen (homo sapiens)

Wie bei fast sozialen Tieren entwickeln menschliche Gruppen Hierarchien und Ränge [4] – diese sind wichtig zum Verständnis von Gruppendynamik. Höhere Ränge werden privilegiert, haben mehr Macht und Verantwortung – niedere Ränge tragen weniger Verantwortung, aber haben auch weniger Macht und Privilegien. Hierarchien vereinfachen die Interaktion – es wird Komplexität reduziert, indem Entscheidungen und Normen von oben vorgegeben werden anstatt dass sie in der ganzen Gruppe entwickelt werden müssen.

Ränge in der Gruppendynamik: Alpha, Beta, Gamma, Omega

Die wesentlichen Ränge lassen sich vereinfacht beschreiben als alpha, beta, gamma, omega – und Gegner (siehe Titelbild).

    • Alpha ist das Leittier und gibt den Ton an. Entweder ergibt sich die Alpha-Position aufgrund seiner Privilegien (körperliche Stärke, Intelligenz, wirtschaftliche Macht) – oder auch einfach durch einen Charakter, dem die Gruppe möglichst wenig Widerstände entgegen bringt und leicht folgen kann.
    • Beta ist die nächstniedrigere Hierarchie – Betas unterstützen die Herrschaft des Alphas, aber könnten auch dessen Macht übernehmen.
    • Gamma sind die Mitläufer, das Fußvolk. Sie gehorchen weitestgehend den Alphas und Betas, unterstützen deren Führung und bekommen dafür Sicherheit und Anerkennung. Sie leben in Angst vor Bestrafung und Ausgrenzung – es drohen Gefühle der Scham und Schuld, wenn sie zu sehr von der Gruppennorm abweichen.
    • Omega bildet den Antagonisten zu Alpha – je nach Situation bekommen sie Anerkennung für besondere Leistungen (Weisheit, Kreativität, Intelligenz, Innovationen, Unterhaltung) und können dadurch neue Gruppen gründen oder abspalten und somit zu neuen Alphas werden. Andernfalls droht den Omegas der Verstoß aus der Gruppe, wenn sie den Mainstream zu sehr in Frage stellen durch unkonventionelles Verhalten. Herrschst Stress und Angst, ordnen sich die Betas und Gammas besonders stark unter den Alpha-Mainstream und sind geneigt, die Omegas auszugrenzen, um Konflikte zu vermeiden. Bieten die Omegas ein attraktiveres Modell als der Mainstream, kann es zur Spaltung kommen und einzelne Gammas und Betas folgen Omega in eine neue Gruppe. Somit löst Omega Gruppendynamik aus – öfter und intensiver als die Alphas und Betas.

In großen Gruppen bilden sich Sub-Gruppen, die eine analoge Rangstruktur haben. Die Sub-Strukturen können miteinander konkurrieren. So entstehen in jeglichen menschlichen Systemen Stämme, Abteilungen & Grüppchen mit Ingroup – Outgroup – Dynamik (siehe auch Spiral Dynamics: Purpurne Ebene) – Wir vs. Ihr – anhand von wirtschaftlichen, äußeren und beliebigen Kriterien und Menschen entwickeln eine soziale Identität [1].

Witzige Studie: Kinder wurden zufällig in eine Kandinsky oder Klee Gruppe eingeteilt (nach den expressionistischen Künstlern). Ihnen wurde Geld gegeben, welches sie beliebig unter allen Kindern verteilen sollten – dabei wurden Kinder bevorzugt, die der eigenen, immer noch vollkommen beliebigen Gruppen, Klee oder Kandinsky, angehörten.

Gruppen oder Sub-Gruppen stabilisieren sich durch

  1. einen Mainstream mit einer bestimmten Kultur oder Religion, die den Mitgliedern Orientierung bietet
  2. die Abgrenzung von anderen Gruppen oder Personen – ihren „Gegnern“
  3. durch Ausgrenzung, Diskriminierung und Mobbing von Individuen

Mainstream, Zugehörigkeit und Hormone

In Gruppen entwickelt sich eine Form der Führung – primär durch Alpha & Beta, aber in spezifischen Domänen auch durch Omega. Geführt werden dann die jeweils Rangniederen, also vor allem die Gammas. Durch die zentrale Führung und Kultur entsteht ein Mainstream, meist interpretiert durch Alphas und Betas, dem die Gammas folgen und damit stabilisieren. Evolutionär haben sich Menschen in Gruppen entwickelt und die Zugehörigkeit in der Gruppe ist für das Individuum überlebensnotwendig. Denn durch die Kooperation in der Gruppe entsteht ein Überlebensvorteil: es kann ein größerer Schutz von sensiblen Individuen gewährleistet werden und durch Arbeitsteilung kann ein wirtschaftlicher Vorteil entstehen.

Hormoneller Mechanismus zur Mainstream-Bildung

Droht der Ausschluss aus der Gruppe, schüttet unser Gehirn Cortisol aus, ein starkes Stresshormon. Bei besonders starkem Stress kann der Organismus in einen fight, flight oder freeze – Zustand entgleiten.

Die Zugehörigkeit zur Gruppe wiederum belohnt unser Gehirn uns mit Oxytocin, welches für Entspannung sorgt. Dadurch wird eine Gruppe stabilisiert und Menschen sind emotional an ihre Gruppe gebunden.

Gruppendynamik - Bindung - Diskriminierung - Scham - Ausgrenzung - Cortisol - Stress - Organisationsentwicklung

Widersprechen einzelne Menschen dem Mainstream, gerät der Organismus unter Stress – dazu droht soziale Bestrafung, Argwohn, Ausgrenzung, Mobbing oder Diskriminierung. Es kann zu Verleumdung & Repression kommen sowie zu körperlicher oder struktureller Gewalt. Nicht immer kommt es zur Ausgrenzung aufgrund von unangepasstem Verhalten – oft dienen auch rein äußerliche Merkmale als Anlass, dies geht meist einher mit Diskrimierung und Mobbing.

Diskriminierung & Mobbing

Viel Leid entsteht für Menschen, die Opfer von Diskriminierung oder Mobbing werden.

Diskriminierung bedeutet die Benachteiligung aufgrund von Abgrenzungsmerkmalen, z.B. Hautfarbe, Geschlecht, Religion, Sprache oder Alter. Eine wirtschaftliche Ursache für Diskriminierung ist die Verteilung von begrenzten Ressourcen: mehr für die Privilegierten bleibt, wenn sie den Benachteiligten aufgrund spitzfindiger Gründe weniger überlassen.

Die Ausgrenzung von Menschen bestimmter Eigenschaften belohnt indirekt die Gruppenmitglieder, indem es ihre Gemeinsamkeiten bestätigt und damit einen Grund für die Gruppenexistenz liefert – es entsteht Angst, auch Opfer von Ausgrenzung zu werden und Erleichterung / Belohnung, teil des Mainstreams zu sein. Besonders in angespannten Phasen kann es daher für den Gruppenzusammenhalt dienlich erscheinen, Minderheiten aufgrund unüblicher Eigenschaften auszuschließen, um damit die Gruppenstabilität zu sichern. Durch derartige Diskriminierung vermag sich die privilegierte Partei einen wirtschaftlichen Vorteil zu verschaffen und damit einen höheren Rang und Macht.

Mobbing ist die systematische psychische Gewalt gegenüber einzelnen Menschen – Mobbing kann Diskriminierung durchsetzen – und ist damit evtl. auch dienlich, um einzelne Individuen auszubeuten oder einfach zur Machtdemonstration zu demütigen oder um andere Individuen abzuschrecken.

Zusammenfassung: Gründe für Ausgrenzung, Diskriminierung und Mobbing

  1. Bestrafung unangepassten Verhaltens und damit Stabilisierung des Mainstreams
  2. Wirtschaftliche Verteilung begrenzter Ressourcen zum Vorteil der Privilegierten
  3. Machtdemonstration und Abschreckung

Trauma durch Gruppendynamik – Gruppendynamik durch Trauma

Trauma im weiteren Sinne heißt, dass seelische Wunden vorhanden sind. Eine demütigende Gruppendynamik mit Mobbing oder Diskriminierung – vielleicht gar mit körperlicher Gewalt – hinterlässt nicht selten seelische Spuren bei den Betroffenen und erschwert die zukünftige individuelle Entwicklung und die friedliche Teilhabe in einer Gruppe.

Individuelle oder kollektive Traumata können erheblich die Gruppendynamik beeinflussen – denn damit einher gehen Ängste, Blockaden und starke emotionale Reaktionen (fight, flight, freeze) auf – oft unbewusste – Trigger / Auslöser.

Kurzer Exkurs zu Trauma & Psychodynamik:

Im erweiterten, nicht-klinischen Sinne sind Traumata seelische Wunden, die einen Einfluss auf die persönliche Entwicklung nehmen. Sie können durch negative Erfahrungen Schock-artig oder subtil, kontinuierlich geschehen, sogar vererbt werden [5]. Es gibt je nach psychologischer Schule verschiedene Ansätze für Trauma-Integration, z. B. durch tröpfchenweise Konfrontration mit Somatic Experiencing mit dafür ausgebildeten Personen. Negative Erfahrungen durch Ausgrenzung, Mobbing oder Diskriminierung können die betroffenen traumatisieren. Die seelischen Wunden können zukünftige Interaktion mit der Gruppe erschweren – oder auch dazu motivieren, zukünftiges Leid zu mindern und Bewusstsein dafür zu schaffen.

Rollendynamik – Gratis-Theater für Alle

Es gibt nicht nur Ränge, sondern auch typische Interaktionsmuster, die sich aus emotionalen Abhängikeiten, Verletzungen und Genugtuungen ergeben. Besonders hilfreich sind das Dramadreieck und die Transaktionsanalyse.

Das Dramadreieck: Opfer – Täter – Retter

In sozialen Systemen ist eine typische Konlifktdynamik, dass einzelne Gruppenteile in die sich gegenseitig stabilisierenden Rollen gehen:

  • Opfer
  • Täter (verwandt / manchmal synonym mit Verfolger)
  • Retter

Diese Rollen bilden das Dramadreieck. Das Perfide: jede Rolle profitiert oft unbewusst. Der Täter empfindet Rangbestätigung und Genugtuung. Die Opfer bekommen oft Mitleid und Aufmerksamkeit für ihr Leid – und können im nächsten Zuge selbst zu Tätern werden, die ihre ursprünglichen Täter nun dafür anprangern und sich rächen. Die Retter fühlen sich heroisch, indem sie den Opfern zu Hilfe eilen, dafür auf Dankbarkeit hoffen können – und bestätigen damit zuweil das Opfer in der Opfer-Rolle.

Transaktionsanalyse und Beziehungsdynamik

Die Transaktionsanalyse nach Eric Berne sieht menschliche Interaktion als Transaktion – nicht nur von wirtschaftlichen Gütern, sondern auch emotionalen / seelischen „Streicheleinheiten„, die jeder Mensch für das Gefühl der Zugehörigkeit zur Gruppe braucht. Eric Berne beschreibt damit auch sonderliche Verhaltensweisen als „Spiele der Erwachsenen“ [2]. Z. B. lang andauernder Alkoholismus und häusliche Gewalt in der Ehe können damit verstanden werden als Transaktions„-Spiel, in der erwachsene Menschen lieber mit negativer als mit gar keiner Interaktion zusammenleben, um das Gefühl der Zugehörigkeit zu erhalten. Oft folgen auf die gegenseitigen Verletzungen dann Phasen der Reue, Entschuldigung und Versöhnung, die dann endlich zu den gewünschten Streicheleinheiten führen – damit gewöhnt sich der Organismus an die nach außen dysfunktionale Beziehungsdynamik.

Bekommen Menschen auf natürliche Art und Weise keine positiven „Streicheleinheiten“ als Zeichen der Zugehörigkeit, können auch negative Interaktionsmuster dem Organismus suggerieren, dass er hier zumindest akzeptiert ist und mit den negativen, teils bestrafenden Verhaltensweisen trotzdem ein Teil der Gruppe bleibt.

Wenn scheinbar absonderliche Opfer-Täter-Dynamiken über lange Zeit stabil bleiben, hilft die Frage: „Bringt die merkwürdige oder verletzende Verhaltensweise an anderer Stelle eine heimliche Belohnung mit sich?“ – dies kann ggf. auch früher in der Kindheit stattgefunden haben. Wenn zum Beispiel ein Kind mit unnötig strenger Moral gerügt wurde, aber kleine Ausnahmen „übersehen“ oder toleriert wurden, lernt der Organismus, dass es lieber an den offiziellen Vereinbarungen vorbei handelt, aber trotzdem den Schein wahrt – der Organismus wurde auf diese Verhaltensweise konditioniert.

Transaktionsanalyse - Teamentwicklung - IKIGAI - Das innere Team - Systemisch - Spiral Dynamics - Heldenreise

Verwandt zum Drama-Dreieck gibt es in der Transaktionsanalyse 3 Ränge mit jeweils unterschiedlichen Haltungen. Hier ist jedoch nicht immer ein Psychodrama nötig. Die konkreten Rollenkombinationen sorgen entweder für Dynamik („trotziges Kind“ + „urteilendes Elternteil“ setzt eine Opfer-Täter-Dynamik in Gang) – oder stabilisieren einen bewussten, gesunden Zustand des friedlichen Miteinanders.

Die 3 Ebenen der Transaktionsanalyse sind:

  • Kind-Ich
    1. angepasst und hilfsbedürftig, entspricht Opfer-Rolle
    2. trotzig, dann evtl. auch Täter-Rolle
    3. freies Kind – frei von Drama – Homöostase
  • Eltern-Ich
    1. urteilend, entspricht Verfolger-Rolle
    2. fürsorglich – für gewöhnlich stabilisierend, kann aber Kind in Abhängigkeit halten und kippt manchmal selbst in Opfer-Rolle (Parentifizierung)
  • Erwachsenen-Ich – diese Rolle ist die einzig stabile ohne emotionale Dynamik – sie beschreibt den Zustand von Menschen, deren Verhalten an den individuellen und kollektiven Bedürfnissen orientiert und ein Gleichgewicht anstrebt.

»Raus aus dem Drama!« – Auflösung der Gruppendynamischen Spannungen

Geschenkt wird dir die Freiheit nicht – wenn langjährige Freunde, Ehepartner, Familie und Geschäftsanteile im Spiel sind, sind starke Emotionen von der Natur aus vorgesehen. Manchmal heilt die Zeit alle Wunden – und manchmal braucht es uns mit Mut, Liebe und beherztem Willen. Dann bekommen wir nicht nur eines Tages Frieden – sondern auch jede Menge Erkenntnisse, Weisheit und die zukünftige Fähigkeit, Gruppendynamiken schneller zu durchschauen und zu lösen. Es ist wie in einem Computer-Rollenspiel – am Anfang sind die Gegner schwer zu besiegen, doch mit der Zeit bauen wir neue Kräfte, Talente und Charakterstärken auf – und können leichter und leichter die Konflikte in positive Energie transformieren.

Zwei Methoden findest du im Artikel »Konfliktlösung«.

Ein guter Kompass ist das Gelassenheits-Gebet von Reinhold Niebuhr:

  1. Habe Gelassenheit, Dinge anzunehmen, die ich nicht ändern kann,
  2. Mut, zu verändern, was ich ändern kann,
  3. Weisheit, 1. und 2. zu unterscheiden.

Das wichtigste darin ist eigentlich die Weisheit (3.), denn andernfalls können wir eben keine funktionierende Unterscheidung vornehmen – dafür hilft neben der Lebenserfahrung z.B. Coaching, Therapie, Lebenserfahrung mit relevanten Situationen und die wissenschaftliche Schulung zur Vorbereitung.
Gelassenheit lernen wir darüber hinaus z.B. durch Achtsamkeit (..zu den Achtsamkeits-Methoden),
Mut durch Aufbau von Selbstwirksamkeit (mehr dazu unter »Selbstbestimmungstheorie«, »Growth Mindset« und »Flow«).

Teil II – Gruppendynamik gestalten

Jenseits des Primatenerbes

Nun haben wir als Menschen das Privileg, einen üppigen Kortex (das ist die äußere Hülle unseres Gehirns) zu haben – dieser erlaubt uns, unsere bisherigen Verhaltensweisen zu reflektieren und zu ändern. New Work experimentiert mit Formen der Kooperation jenseits von linearen Hierarchien: aber es erfordert auch eine höhere Selbst- und Sozialkompetenz und die Fähigkeit, mehr Komplexität zu verarbeiten, um sich in flexiblen Rollen und Führungskonstellationen zu organisieren – und trotzdem den Überblick und die Klarheit nicht zu verlieren. Feedback und regelmäßige Justierung der Strukturen und Interaktionen erfordert nicht nur viel Kommunikation, sondern auch Kreativität und Ambiguitätstoleranz.

Methoden und Modelle zur Gestaltung der Gruppendynamik

Landkarten für die Entwicklung derartiger Kulturen bieten Spiral Dynamics und Reinventing Organizations.

Holokratie und Soziokratie sind Schablonen für Rätesysteme mit flexiblen „Kreisen“ für Gruppen als Sub-Systeme. Darin werden verschiedene Rollen definiert, die eingenommen oder verlassen werden können (siehe Belbin-Teamrollen).

Wichtige Kommunikations-Methoden sind systemisches Konsensieren, Gewaltfreie Kommunikation, systemische Fragetechniken und Mediation. Die Diszplin für das bewusste Reflektieren und Korrigieren der Teamdynamik heißt Teamentwicklung. Achtsamkeit für sich selbst und die Mitmenschen ist eine wichtige Basis für das entspannte Miteinander, im besten Falle entstehen so Flow Teams.

Weitere Ansätze für kreative Gruppendynamik:

  • Design Thinking ist ein allgemeines Framework für empathisches Gestalten von Organisationsstrukturen – auch von Kommunikationsprozessen, Ressourcenverteilung und der Kultur. Mehr zu Teamentwicklung mit Design Thinking
    Schaubild für den Design Thinking Prozess:

Design-Thinking-Prozess-6-Phasen-Produktentwicklung-Kreativität

  • Agile Methoden wie Scrum geben eine Prozess-Schablone für das kontinuierliche Justieren eines Interaktionssystems – nicht nur für Softwareentwicklung, sondern auch von Gruppenorganisation… mehr zu Agiler Organisationsentwicklung
  • Die Visionspyramide schafft einen Querschnitt durch die Meta-Ebenen der Kommunikation und Interaktion.
  • OKRs sind ein intelligentes Zielmanagement-System, welches strategische Planung und SMART-Goals vereint
  • Aufstellungen sorgen für bewusste Reflexion der einzelnen bewussten & unbewussten Anteile einer Gruppe. Je nach Kontext heißen sie dann Familienaufstellungen oder systemische Organisationsaufstellung und benutzen oft Figuren, Zettel (»Bodenanker«) oder andere Menschen als Stellvertreter für die Anteile. Eine mögliche konkrete Darstellungsform ist die Stakeholder Map.
  • Facilitation ist die hohe Kunst der Moderation von Gruppenprozessen – durch das Bewusstmachen der Gruppendynamik, der Spannungen und der Anteile – mit dem Ziel des Friedens und der strategischen Weiterentwicklung der Gruppe / Organisation

Das Tuckman Phasenmodell zur Normierung von Gruppendynamik

Die Tuckman-Teamphasen beschreiben einen typischen Zyklus der Gruppendynamik vom Kick-Off über die entwicklung von Konflikten und Normen hinzu Flow – und ggf. Auflösung. Die Tuckman-Phasen heißen Forming, Storming, Norming, Performing – und Adjourning:

    1. Forming: die Bildung einer neuen Gruppe. Es herrscht erhöhte Aufmerksamkeit und gegenseitiges Abchecken. Im besten Fall herrscht ein gewisser Anfangszauber und Euphorie.
    2. Storming: es kommt zu Reibung und Spannungen zwischen den Gruppenmitgliedern – Ränge werden verhandelt, Werte und Normen konkurrieren, es gibt Kommunikationshürden und Missverständnisse, Emotionen entstehen, individuelle Bedürfnisse konkurrieren und werden nicht erfüllt.
    3. Norming: Die Regeln für das Miteinander werden ausgehandelt, um zukünftig Spannungen zu mindern. Je nach Kompetenzen und Persönlichkeiten entstehen mehr oder weniger komplexe Regelsysteme – vgl. Spiral Dynamics
    4. Performing: Nun können idealerweise die unterschiedlichen Kompetenzen miteinander erfolgreich sein, Regeln werden eingehalten, es entsteht Vertrauen, Gewöhnung und Sicherheit – erste Erfolgserlebnisse belohnen die Bemühungen und echter Teamgeist kann sich einstellen.
    5. Adjourning: Einzelne oder alle Teammitglieder verlassen die Gruppe.

Mit dem Wissen über die typischen Gruppendynamiken können die unbewussten Dynamiken besser aufgefangen werden – und möglichst sinnvolle Regeln und Normen gefunden werden.

Konflikte als gruppendynamisch notwendige Phase der Gemeinschaftsbildung

Verwandt mit den Tuckman-Phasen sind auch die 4 Phasen der Gemeinschaftsbildung nach Scott Peck:

  1. Pseudogemeinschaft: Zusammenkommen mit guten Absichten und einer gewissen Anfangseuphorie – jedoch noch ohne tieferes Verständnis füreinander, ohne Weisheit und Liebe im Umgang mit Reibung, ohne authentische Kultur – aber oft mit Wunsch, eine positive Atmosphäre zu erhalten – wobei Spannungen der Harmonie zuliebe ausgeblendet werden können.
  2. Chaos & Konflikt: die unterschiedlichen Persönlichkeiten, Verhaltensweisen, Normen, Rangansprüche und Bedürfnisse stoßen aneinander und können nicht mehr ausgeblendet werden – Egos verhärten sich und sorgen für dynamische Phasen, evtl. mit Kämpfen, Diskriminierungen und Ausgrenzungen.
  3. Leere / Verlernen: die Verhaltensmuster, kognitiven Verzerrungen und emotionalen Gewohnheiten der Egos müssen überwunden oder integriert werden, um eine neue ganzheitlichere Form der Kommunikation und des Miteinanders zuzulassen. Dies ist die herausforderndste Phasen, da Menschen ihre bestehenden Gewohnheiten hinterfragen und verlernen müssen, um neue zu lernen, welche für Gemeinschaft und Frieden wichtig sind.
  4. Echte Gemeinschaft zeichnet sich aus durch echte Empathie, Verständnis, Dialog und gemeinsam verhandelte Regeln, Normen und Kulturen.

Als 3 wichtige Faktoren für erfolgreiche Gemeinschaftsbildung nennt Scott Peck: Inklusion, Commitment, Konsens.

Der systemische AusBlick: Gruppen als soziale Systeme

Gruppen, genau wie einzelne Menschen, sind komplexe Systeme – vor allem das menschliche Nervensystem ist ein komplexes System und damit auch der menschliche Geist, die Seele, Beziehungen und Kommunikation …zur Übersicht der Eigenschaften komplexer Systeme.

Mit den obigen Modellen, Theorien und Methoden lassen sich viele Gruppendynamiken verstehen und Gruppenprozesse bewusst und konstruktiv gestalten. Dabei werden stets unerwartete Phänomene, Spannungen und Konflikte auftauchen, die selten durch die emotionale betroffene Person im akuten Moment verstanden wird. Es braucht dann den ganzheitlichen Blick auf das soziale System.

Zum Aufdecken der Dynamiken und Kräfte dienen insbesondere systemische Fragetechniken und Personen mit Mediations– und Facilitation-Kompetenz.

Wenn du neugierig bist auf Austausch oder Begleitung eines Gruppendynamischen Prozesses, kannst du uns gerne eine Email schreiben oder Teil unserer Online-Community von Change Makern (im Entstehungsprozess) werden.

Quellen

[1] Michael Billig, Henri Tajfel: Social Categorization and similarity in intergroup behavior. In: European Journal of Social Psychology. Band 3, Nr. 1, Januar 1973, S. 27–52 (englisch; doi:10.1002/ejsp.2420030103).

[2] Eric Berne: Spiele der Erwachsenen. Psychologie der menschlichen Beziehungen. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2008

[3] Raoul Schindler: Das lebendige Gefüge der Gruppe. Psychosozial-Verlag, Gießen 2016, ISBN 978-3-8379-2514-2

[4] Wikipedia über Rangordnungen bei Primaten

[5] Jawaid, Ali, Martin Roszkowski, and Isabelle M. Mansuy. „Transgenerational epigenetics of traumatic stress.“ Progress in molecular biology and translational science. Vol. 158. Academic Press, 2018. 273-298.